Marie Gruhl (1881-1929)

Marie Gruhl wurde am 25. Mai 1881 in Barmen im Rheinland geboren. Das Kind kam ohne Füße zur Welt. Die Eltern kümmerten sich liebevoll um ihr Kind und waren bemüht, die Tochter ebenso wie ihren 12 Jahre älteren Bruder zur Selbstständigkeit zu erziehen. Marie besuchte die öffentliche Mädchenschule, das städtische Charlottenlyzeum, das nur zehn Minuten vom Elternhaus entfernt lag. Sie bewegte sich mithilfe von Prothesen und einem Rollstuhl fort. Als Tochter des Direktors eines Realgymnasiums wollte sie Lehrerin werden und legte 1901 und 1907 die dafür nötigen Prüfungen ab. 1911 wurde sie Lehrerin an der Schule, die sie selbst als Schülerin besucht hatte, dem Charlottenlyzeum.

Als einzige Frau gründete sie 1919 in Berlin gemeinsam mit mehreren Männern, unter anderem Otto Perl, den "Selbsthilfebund der Körperbehinderten (Otto Perl-Bund)". Der Bund hatte sich die geistige und wirtschaftliche Förderung behinderter Menschen zum Ziel gesetzt. Marie Gruhl übernahm neben ihrer Berufstätigkeit und ihrem sonstigen Engagement im Selbsthilfebund auch dessen Geschäftsführung. Sie beteiligte sich an den Diskussionen zur Gestaltung und Verabschiedung des "Preußischen Krüppelfürsorgegesetzes von 1920" und weiteren Gesetzen, die eine Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen darstellten. Das "Preußische Krüppelfürsorgegesetz" war das erste gesetzliche Regelwerk, das Fürsorgemaßnahmen für Menschen mit körperlichen Behinderungen als staatliche Verpflichtung festschrieb und somit den Betroffenen einen Anspruch auf Leistungen gewährte. Menschen mit Behinderungen wurden nun in sogenannten "Krüppelheimen" erzogen und ausgebildet. Marie Gruhl setzte sich besonders dafür ein, dass Kinder mit und ohne Behinderungen die Möglichkeit bekamen, gemeinsam aufzuwachsen und zusammen in die Schule zu gehen. Da sie selbst durch die Erziehung ihrer Eltern und den Besuch der öffentlichen Schule größtmögliche Selbstständigkeit erlangt hatte, wollte sie allen jungen Menschen mit Behinderungen dasselbe ermöglichen.

Über ihr Leben schrieb sie: "Es ist für meinen Körper alles Erdenkliche geschehen, um seine Leistungsfähigkeit zu erhöhen und mich selbst möglichst unabhängig von der Hilfe anderer zu machen. Abgesehen davon aber bin ich erzogen worden wie ein normales, gesundes Kind: ich wuchs im Sonnenschein des Elternhauses auf; ich durfte die öffentliche Schule besuchen, durfte mich meiner Neigung folgend ausbilden und darf heute im öffentlichen Lehramt stehend meinen Platz im Leben neben und mit Gesunden ausfüllen." Im Gegensatz zu den nicht behinderten professionellen Fachleuten der damaligen "Krüppelfürsorge", vor allem Medizinern, Medizinerinnen, Pädagoginnen und Pädagogen, formulierte Marie Gruhl den Grundsatz, dass ein Kind mit Behinderung nach Möglichkeit in die Gemeinschaft der „Gesunden“ gehört. Ihre Überlegungen, wie eine gemeinsame Erziehung ermöglicht werden kann, lesen sich auch heute noch sehr modern. Sie sah vor allem Unterstützungsbedarf für Familien mit körperbehinderten Kindern. Die Schulen betreffend setzte sie sich für eine Vorbereitung der Lehrkräfte auf die gemeinsame Erziehung ein.

Marie Gruhl unternahm viele beschwerliche Reisen in die großen Anstalten Deutschlands und ins Ausland, um die Anstalts- und Heimfürsorge und ihren Einfluss auf Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in der Praxis zu studieren und Material für eine Dokumentation über die Ausbildungsmöglichkeiten für körperbehinderte Kinder und Jugendliche zu sammeln. Sie besuchte Waisenhäuser, Kinderheime, "Siechen"- und Altenheime, Fürsorgeanstalten für Jugendliche und Kliniken. Während einer dieser Reisen zog sie sich eine schwere Erkältungskrankheit zu, an deren Folgen sie am 21. Februar 1929 im Alter von nur 48 Jahren starb.

Quelle:
Website bidok: Petra Fuchs: Marie Gruhl (1881-1929). Engagement für die gemeinsame Erziehung "gesunder" und "krüppelhafter" Kinder und Jugendlicher in der Weimarer Republik