"Man sieht nur, was man weiß" - NS-Verfolgte im Alter
"Du musst dich wehren, du musst dein Leben verteidigen" – Begegnung mit Karl D.
(Christina Hilgendorff)
"(...) Ich weiß wohl, dass ich keine menschliche Zuwendung erwarten kann, sondern nur notwendigste Pflege, die ich ja nun reichlich genossen habe und weiß, was das heißt. Und da ist natürlich der Willkür Tür und Tor geöffnet. Ich weiß von Bekannten, eine gute Bekannte in L., die einen über 90-jährigen Vater hatte, der fast bis zum letzten Jahr fit war, geistig sowieso, aber auch körperlich. Aber im letzten Jahr brauchte der Pflege und da hatte sie einen Pflegedienst, und sie passte da sehr drauf auf, sagte: 'Da kann etwas nicht stimmen, das hat der Pflegedienst nicht gemacht, er hat ihn nicht trocken gelegt.' Und da war es nachher so, dass sie das auch nicht durch die Aussagen ihres Vaters kontrollieren konnte. War der da? Hat der dies oder jenes gemacht? Und sie hat viermal die Pflegedienste gewechselt.
Einmal kam da jemand, ich selber habe ihn auch gesehen, kannst du dir das vorstellen, einer mit ’ner Glatze und total tätowiert, in Lederhose usw. Muss ja nicht, kann aber sein, dass hier jemand, der überhaupt nicht qualifiziert dafür ist, dann solch eine Aufgabe wahrnimmt bzw. nicht wahrnehmen kann. Und das wäre natürlich ideal, wenn man in solch einem Falle, wo man hilflos und pflegebedürftig ist, solch einen Kontrolleur dort an der Seite hätte. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, das hab' ich leidvoll erfahren. Das blüht dir, wenn du hilflos bist, auch wieder in deinem Alter. Hilflos kommt der Mensch zur Welt, hilflos geht er aus der Welt, und wenn man nicht das Glück hat, schön friedlich einzuschlafen. (...)." (39)
Die Situation erscheint aussichtslos, und die Befürchtungen scheinen unumstößlich: Inhumane und inkompetente Pflege erwarte ihn. Karl D. ist ganz ruhig, wenn er diese Einschätzung formuliert, und sie basiert auf einem grausamen Hintergrund. Karl D. ist als Kind in den 30er- und 40er-Jahren erst in einem Waisenhaus und später in einer psychiatrischen Anstalt groß geworden. Fern von jeder familiären Geborgenheit hat er dort eine gezielte und systematische Mangelversorgung in allen menschlichen Bedarfen erlebt, verbunden mit schwerer Arbeit, Terror und Misshandlungen. Man-made-desaster: "Erzähl mir was von den Menschen, mir kann keiner was von den Menschen erzählen."
Karl D. wird 1934 geboren. Seine Familie lebt damals auf dem Land, und als der Vater gewahr wird, dass Karl D. nicht sein leibliches Kind ist, reagiert er mit Gewalt. Die Mutter ist verzweifelt und versucht schließlich, sich mit ihren Kindern das Leben zu nehmen. Die Selbsttötung misslingt, sie wird in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Die Kinder – Karl D. ist damals ein Jahr alt – werden auf katholische Waisenhäuser verteilt. Für Karl D. beginnt damit eine lange Leidensgeschichte. Nonnen führen das Waisenhaus, und Karl D. erzählt von Unterwerfung und Zerstörung kindlicher Lebenslust und -entfaltung im Namen der Kirche: Schläge, Hunger, Schweigen, Frieren. Als er dann in die Schule kommt, wird ein Lehrer auf ihn aufmerksam. Der Mann ist Verfechter des "rassenhygienischen" Programms, mit dem die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten den "arischen Volkskörper" von "Minderwertigen" befreien wollen. Er meldet das Kind aufgrund seiner Familiengeschichte den Behörden mit dem Hinweis auf "erblichen Schwachsinn". Karl D. gerät in das tötungswillige "Räderwerk" der NS-Rassenhygiene: 1939 erließ Hitler den sogenannten Euthanasiebefehl, mit dem die systematische Tötung derjenigen begann, die nach den Kriterien der Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten als lebensunwert eingestuft wurden. Zwei Jahre später führten Proteste aus der Gesellschaft zur formalen Einstellung der Tötungen, die daraufhin im Geheimen fortgesetzt wurden. Bis 1945 fielen etwa 300.000 Menschen der Euthanasie durch Vergasung, Erschießung, tödliche Injektionen sowie durch Hunger und systematische Erschöpfung zum Opfer. (40)
Ein Mediziner stellt bei Karl D. die unter den Rassenmedizinerinnen und –medizinern beliebte Diagnose "Debilitis und Psychopathie" – ein Befund, der in der Wissenschaft nicht beschrieben ist –, und Karl D. wird in die Kinderfachabteilung einer psychiatrischen Anstalt gebracht. Hier entscheiden Ärzte und Ärztinnen, ob "erbkranke" Kinder getötet oder in andere Heilanstalten verlegt werden. Karl D. ist damals neun Jahre alt:
"(...) Mein Schullehrer war Rektor der Schule, war spezialisiert auf Rassenhygiene, wie das meist die Volksschullehrer waren. Er hat dann durch die Nonnen über die tragische Geschichte meiner Geburt erfahren und hat dann gleich einen Antrag, einen Euthanasieantrag gestellt. Und Herr Dr. W. hat den Antrag genehmigt, ich sei geisteskrank und müsse in eine Anstalt eingewiesen werden. Das war April 1943, und das hieß dann mehr oder weniger, dass ich lebensunwert war, dass ich euthanatisiert werden sollte. Kam dann in die Kinderfachabteilung im Mai, 9. Mai 1943, und wurde dort per Lumbalpunktion untersucht. Das war die einzige Untersuchung, die sie gemacht haben, außer noch einen Intelligenztest einer Psychologin – das gab es dazumal noch, auch in der Kinderfachabteilung in K. –, und die stellte dann da fest, dass ich absolut nicht hilfsschulbedürftig sei, ein normal aufgewecktes Kind. Änderte aber nichts an der Diagnose des Herrn Professor, nicht Professor, Doktor W. Ich kam dann im September 1943 in die Idiotenanstalt L., der spezielle Name "Anstalt für Geisteskranke und geistes-schwache Kinder“, und dort bin ich bis September 1953 geblieben. (...)"
Karl D. überlebt, schwer verletzt an Körper und Seele. Bis heute ist nicht sicher feststellbar, wie viele Kinder in dieser von der katholischen Kirche geführten Anstalt gestorben sind. Als Deutschland im Mai 1945 kapituliert, ist für Karl D. das Leiden aber noch nicht beendet. Die NS-Psychiatrie ist kein Thema in der Nachkriegsgesellschaft, die wenigen Prozesse gegen Mediziner, Medizinerinnen und Pflegepersonal enden oft mit Freisprüchen.
"(...) Ich habe keine Schule besuchen können, d. h. die Verwahrschule der geistes-schwachen und schwachsinnigen Kinder, die nicht von Lehrern geleitet wurden, sondern von unausgebildeten Nonnen des Ordens. Das ist ein Faktum, mit dem sich die Größen des Landeshauses heute noch beschäftigen und da etwas unternehmen wollen, wie so etwas möglich war. Eben weil es noch bis in die 70er-Jahre der Fall war, dass für über tausend Kinder nicht ein Schullehrer bzw. Lehrerin dort war, das ist der Skandal. (...) Ja, um es kurz zu machen, ich bin da auf dem Bildungsstand eines achtjährigen Kindes stehen geblieben. Ich konnte lesen und schreiben, wie ich nach L. kam, und von daher hatte ich Glück, sonst hätte ich das wahrscheinlich auf dieser Idiotenschule nicht gelernt (...).
Natürlich mussten wir Kinder schwerstens dort arbeiten, das war das Programm, nicht nur Ora, sondern auch Labora. Und das Labora ging natürlich einträchtig mit dem Naziprogramm einher, das war kein Widerspruch. Wir triebhafte Wesen müssen rund um die Uhr so beschäftigt werden, damit wir absolut nicht zum Denken kommen. Wenn wir denken, denken wir nur Abscheuliches, eben Sexualität. Das war so die monströse Projektion, nicht nur der Pfaffen, ob katholisch oder evangelisch. Ich kenne die Literatur, ich weiß, wo meine Zeugen stehen, -zigtausende in der Bibliothek, kilometerlang stehen sie dort, und es ist nicht L. allein.
Und um es kurz zu machen, wie schrecklich die Zustände in dieser Anstalt waren, ein Krankenpfleger aus K., bei einer Gedenkveranstaltung in den 90er-Jahren erzählte er den Presseleuten, die da zahlreich erschienen waren – Anlass war die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus dieser Anstalt, der euthanasie-ermordeten Kinder – der erzählte dann den Presseleuten, er war noch sehr emotional bewegt: 'Etwas ganz Schreckliches habe ich in den 50er-Jahren erlebt. Da kam ein Kindertransport aus L., die Kinder waren in einem solchen unmenschlichen Zustand, dass wir erschrocken und hilflos waren. Die waren so misshandelt und malträtiert, dass wenn wir den Tagesraum betraten, die zu zittern anfingen, sich in die Hose machten und sich unter dem Tisch versteckten. Wir waren hilflos. Was machen wir? Wir sind mit hoch erhobenen Armen in den Tagesraum gegangen, um ihnen zu zeigen, wir haben nicht irgendwelche Schlaginstrumente.' Er sagte, die Kinder hatten auch Narben auf den Köpfen, Narben, die genäht worden waren. Man sah es als Krankenpfleger, dass dort schwere Verletzungen waren. Oder aber einige hatten noch blaue Flecken usw., Blutergüsse. Und das Schändlichste, sagt er, sie kamen von Nonnen, aus L., dass Nonnen so pervers sind mit Kindern, so etwas anstellen. Was aber war die Reaktion der Pressevertreter? Sie waren verschwunden, das war nicht zu vermarkten. (...)
Um es kurz zu machen, das war noch nach meiner Zeit. Ich habe sehr großes Glück gehabt, dass ich aus dieser Schlangengrube relativ unbeschädigt, nein, das ist falsch, natürlich war ich schwerstens geschädigt. Ein 18-jähriger Mensch, der auf dem Bildungsstand eines achtjährigen Kindes stehen geblieben ist. Das war es ja nicht nur allein, ich war ja durch das Malträtieren, das tägliche, so schwerst geschädigt, das saß. Dass ich ein schwerst hospitalismusgeschädigter Mensch war, der Angst hatte, wenn er einem Fremden begegnete, der nicht geradeaus sehen konnte, sondern immer nur auf den Boden. Der Angst hatte, dass ihm etwas geschehen konnte, eben weil er unentwegt misshandelt worden war. Ohrfeigen waren das Gelindeste, der dicke Nussbaumknüppel usw. usf.
Das lief ja noch in den 60er-Jahren in ganz normalen Heimen und nicht in einer idiotischen Verwahranstalt und das ist das. Na ja, wie kam ich da heraus aus der Anstalt? Ich bin dann im September '53 als chronisch Kranker, d. h. als debiler Psychopath zur endgültigen Unterbringung nach O. in die Heil- und Pflegeanstalt V. gekommen. Da sollte ich dann die restlichen Tage meines Lebens verbringen. (...)"
Diese Verlegung ist eine Unterbringung auf Lebenszeit, ohne Aussicht, jemals ein freies Leben führen zu können. In V. ist er wie lebendig begraben. Aber in V. begegnet Karl D. auch einer völlig neuen, ihm fremden und wunderbaren Welt, die immer ein wichtiger Antrieb für seinen "Über-Lebenskampf" gegen den Ausschluss sein wird: Unter den Patientinnen und Patienten sind Künstler, Künstlerinnen, Akademikerinnen und Akademiker, die ihn an ihren Gesprächen teilhaben lassen. Karl D. fühlt sich wie ein Schwamm, saugt alles auf, Sprache, Gedanken, Gefühle. Einer dieser Männer setzt sich nachhaltig für ihn ein, schreibt für Karl D. Entlassungsgesuche an das Vormundschaftsgericht. Und tatsächlich erreicht er etwas: 1954 darf der 20-jährige Karl D. die Anstalt verlassen und wird als so genannter Familienpflegling auf einem Bauernhof als Knecht untergebracht. Wenn er heute daran denkt, spiegeln sich Fassungslosigkeit und Wut angesichts der Inhumanität und Gleichgültigkeit, mit der die Verantwortlichen auch in dieser Situation wieder mit ihm umgingen:
"(...) Ich hatte keine normale Sprache, ich sprach den Jargon, den ich von den Nonnen hatte. Und das alles sehr verhalten und furchtsam, man nannte mich immer den Jesus. Das war eine ganz abfällige Bemerkung, jemand, der Jesus, der musste nicht ganz dabei sein, der musste zurückgeblieben sein usw. Und das ist also das Problem. Einen lebenslänglich Hospitalisierten, den kann man ja doch nicht einfach vor die Anstaltsmauer jagen, und jetzt sieh mal zu, wie du fertig wirst. Es ist wie der Fisch auf trockenem Lande, der dann nach Luft schnappt, und der dabei in der Regel, wenn ihn keiner wieder in sein Element befördert, verreckt, nicht, und das war die Situation. (...)"
Auf dem Hof sammelt er wieder bittere Erfahrungen, wieder hungert er und muss schwerste Arbeiten übernehmen. Es gibt noch andere Hilfsarbeiter auf dem Hof, die ihm das Leben schwer machen, die Männer sind untereinander aggressiv. Aber es sind auch diese jungen Männer, die ihm ein zweites Tor zur Welt eröffnen, seinen Widerstandsgeist weiter herausfordern und damit Veränderungen anstoßen. Unter ihnen fängt er an, sich gegen andere zu wehren, zuerst gegen ihre Gewalt, dann gegen Ausbeutung:
"(...) Du musst dich wehren, du musst dein Leben verteidigen. Und so hab’ ich das dann im Laufe meines Lebens gelernt. (...) 'Bist du verrückt, umsonst zu arbeiten, du machst uns den Lohn kaputt, wenn du so wenig bekommst, dann brauchen wir ja auch nicht mehr, geh mal hin und fordere mal Geld.' Konnte ich nicht. Konnte ich nicht, aufgrund meiner Sozialisation: Alles meinem Gott zu Ehren, in der Arbeit, in der Ruh'. Unanständig ist es, für Arbeit Geld zu verlangen. Und das hatte ich so verinnerlicht. Und natürlich ist man ja auch zu einem billigen, d. h. einem Arbeiter, der einen nichts kostet, sehr nett und sehr lieb. Und das waren natürlich erhebliche Barrieren psychologischer Art, jetzt zu sagen, diesen netten Bauern da anzuhauen: 'Nun gib mal mehr.' (...) Ich hab' es dann doch eines Tages geschafft, erst zehn Mark im Monat, und nachher hab' ich sogar 100 Mark im Monat bekommen. Ja, das war natürlich sehr schlecht für meine Rente. Ein Ungebildeter, Hospitalismusgeschädigter, der muss die dreckigste, die schmutzigste, die schwerste und natürlich die schlechtest bezahlteste Arbeit ausführen. Das ist heute noch so, noch dazu, wenn da kein Kläger ist. (...)"
Drei Jahre schuftet Karl D. auf diesem Hof, bis er sich zum Auszug aus diesem Leben entschließt. Die Sehnsucht nach einem erfüllten und geborgenen Leben, nach Nähe und wirklichen Beziehungen zu Menschen, nach Bildung ist größer als alle Ängste und alle zerschlagenen Gefühle. 1957 bewilligt das Gericht endlich die Aufhebung der Vormundschaft, und Karl D. ist frei. Er ist 23 Jahre alt, und es fehlt ihm an vielem, was für junge Menschen ganz selbstverständlich ist: praktisches und intellektuelles Wissen über das Leben in unserer Gesellschaft. Aber es fehlt ihm nicht an Hoffnung und Mut. Karl D. arbeitet als Hilfsarbeiter und versucht, in Abendkursen vieles nachzuholen, was man ihm in seinem Kinderleben verweigert hat. Anfangs ist er damit völlig allein:
"(...) Dann bin ich von der Zeche ins Ruhrgebiet, verschiedene Industriebetriebe, Krupp zum Beispiel, Videa, immer als Hilfsarbeiter in der Transportkolonne usw. usf., erbärmliches Leben, schwere Arbeit, wenig Geld. Und wie verbrachte ich meine Freizeit? Mit Lesen, ja, natürlich mit Edgar Wallace, Agatha Christie und was weiß ich, da verbrachte ich meine Zeit, ganz isoliert, abgeschieden. Später habe ich dann begonnen, Abendkurse in der Volkshochschule zu besuchen. (...)"
Schließlich sucht er Hilfe, denn die Aufgabe ist zu groß für einen Menschen allein. Er findet Unterstützung bei einer Psychiaterin, die weiß, welche Erfahrungen hinter ihm liegen. Gemeinsam beginnen sie, um seine Rechte zu kämpfen.
"(...) 'Das ist ein Verbrechen, das an Ihnen begannen worden ist, und da lassen Sie sich nur nichts einreden.' Das wusste sie alles, dass da an den Leuten... (...) Der erste Mensch, der mir das so sagte: 'Mensch, man wird wahnsinnig, wenn man daran denkt, dass das auch meinen Kindern geschehen könnte.' Sie hatte zwei kleine Jungen. (...) 'Ist doch ganz aussichtslos, Herr D., dass Sie da die Ihnen vorenthaltene Bildung auf diese Weise nach Schwerstarbeit am Feierabend nachholen können, schreiben Sie da eine Petition und nennen Sie da Ross und Reiter.' Wusste ich, was eine Petition ist? (...)"
Aber Karl D. schreibt eine Petition und erreicht 1966, nicht ohne diverse psychologische und psychiatrische Tests machen zu müssen, dass das Land ihm eine Schulbildung bezahlt. 1971 besteht Karl D. das Abitur, vier Jahre hat er unentwegt gelernt. Diese Zeit ist schwer, weiter lebt er in Einsamkeit und Isolation, mit den anderen Schülern verbindet ihn nichts:
"(...) Das war eine private Abendschule. Und das war eine schreckliche Zeit. Ich hatte doch gar nicht das Vorwissen, große Lücken, das waren Auflagen, binnen vier Jahren muss ich dann fertig sein. (...) Da war keine Hilfe usw. Und die da auf das Abendgymnasium gingen, das waren Lümmel, die das gezwungenermaßen machten, weil ihre Eltern das wollten, weil sie von der Schule runtergeflogen waren. (...)"
Später beginnt er ein Studium der Germanistik und Philosophie und möchte Gymnasiallehrer werden. Der Wunsch nach Bildung erfüllt sich jetzt über alle Maßen, er studiert um der Bildung wegen und genießt jeden neuen Impuls. Aber es mischt sich Enttäuschung in die Entdeckung und Aneignung dieser so lang ersehnten Welt. Auch hier erlebt er das Gefühl von Fremdheit und Isolation:
"(...) Ich, als total Entfremdeter, musste die Welt nun als total entfremdet erleben und war entsetzt, dass die anderen noch entfremdeter waren als ich. Dass die Wissen als Ballast ansahen und dass das ein Übel war, das man auf sich nehmen musste, um einen halbwegs angenehmen Job als Lehrer zu haben. Ganz eingleisig, schmalspurig, was rechts und links war, interessierte absolut nicht. Wer weiß wie oft hab' ich den Rat bekommen, das brauchte ich doch alles gar nicht als Lehrer, die ganzen Bücher. (...)
Ich hatte da einen ganz sympathischen Professor, den Professor N., in einem Spinoza-Seminar hab' ihn da angesprochen: ‚Die Isolation, die ist doch sehr groß.' Das war das Problem, besonders hier an der Uni, eine Massenuniversität, wo viele Studenten sich umbrachten, eben wegen der Totalisolation. Das riesige Studienbüro mit zehn Psychologen, die da die Studenten betreuten und noch betreuen, ich glaube, es ist noch größer geworden. Da hab' ich das mal dem N. erzählt, dem Philosophieprofessor. 'Herr D., wenn Sie Isolation nicht ertragen können, dann brauchen Sie auch keine Philosophie zu studieren.' Ja, das bringt das Studium der Philosophie so irgendwo mit sich, aber dass man dann auch unbedingt diese bittere Pille da schlucken muss? Aber was wollte ich? Ich bin ein soziales Wesen, Bücher können für mich nur ein Ersatz sein. Wenn der Plato, der Rousseau und der Sokrates usw., wenn die mir persönlich begegneten, dann brauchte ich die Schwarten dort nicht. Das gibt es ja, dass man schon mal eine Sternstunde hat, dass man einem Menschen begegnet, der einen einen ganzen Abend herrlichst unterhalten kann. Nicht die Weltweisheiten usw., das erwarte ich ja gar nicht, aber doch so irgendetwas Substanzielles, noch dazu, wenn es humorig ist. Ich liebe Humor sehr. Eben weil ich den immer habe entbehren müssen, ich lache auch gern, wenn ich Grund dazu habe. Eben weil das verboten war in dem Irrenhaus, bei den perversen Nonnen: Lachen ist etwas sehr, sehr Böses in der Tradition der Klöster, im Kloster darf nicht gelacht werden. Gestern hab’ ich das noch gelesen, das war ein Vergehen, das mit Züchtigung von den Oberen bestraft wurde. (...)"
Spätestens in den 80er-Jahren holt ihn seine Kindheitsgeschichte endgültig wieder ein. Als er das Zweite Staatsexamen machen will, wird ihm dieses verweigert mit der Begründung seiner NS-Psychiatriediagnose von 1943; die Ärzte und Ärztinnen bescheinigen sogar ein Gefahrenpotenzial. Er kommentiert diese Erfahrung gefasst, vielleicht auch ironisch:
"(...) Ich hab’ schon Schlimmeres erlebt. Ich war dann Gott sei Dank nicht mehr ein hilfloses Kind von zwei Jahren auf der Krabbelstation des Waisenhauses, wo eine Geisteskranke bzw. eine ältere Patientin aus der Heilanstalt uns Kinder betreute. (...)"
Er geht juristisch gegen diese Entscheidung vor und gewinnt. Aber den Beruf darf er nie ausüben, keine Schulbehörde stellt ihn ein. Wieder erlebt Karl D., dass ihm Behördenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, Kolleginnen und Kollegen, Ärztinnen und Ärzte seine Teilhabe und Entwicklung in der deutschen Gesellschaft verweigern. Er unterrichtet dann viele Jahre als Dozent an Volkshochschulen. Und auch wenn ihm diese Arbeit viel Freude und Erfüllung gegeben hat, so hat dieser erneute Ausschluss neben den seelischen gerade auch weitreichende materielle Folgen. Heute lebt er von Sozialhilfe, der damalige Verdienst reichte nicht für eine private Rentenversicherung. Erst 2003 hat sein Bundesland ihn als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt und zahlt ihm seitdem eine kleine Entschädigungsrente. Bis heute kämpft er für die Belange dieser Opfergruppe: Menschen die durch die kirchlichen Einrichtungen und den Nationalsozialismus verletzt, terrorisiert und ermordet wurden und deren Anerkennung in Deutschland noch immer aussteht.
Karl D. ist heute Mitte 70, er lebt in einer kleinen Wohnung in einem großen Häuserblock am Rand von M. Seit 20 Jahren wohnt er hier und fühlt sich immer noch wohl. Seine Nachbarinnen und Nachbarn sind überwiegend Studierende, denn die Uni ist nicht weit. Die Kontakte sind unverbindlich, aber offen und freundlich. Karl D. versorgt sich allein, wäscht, kocht, putzt, hat ein Auto, mit dem er vielfach unterwegs ist. Letztes Jahr hat diese Unabhängigkeit einen Riss bekommen. Karl D. hatte einen Herzinfarkt, von dem er sich nicht wie erwartet wieder erholen kann. Er ist wetterfühlig geworden und hat nicht mehr die gleiche Kraft: Dinge, die ihm leicht von der Hand gingen, erschöpfen ihn heute. Nach dem Aufräumen muss er sich ausruhen, auch längere Fahrten mit dem Auto fordern ihren Tribut. Gedanken kommen auf, zum Beispiel, ob er auf Dauer eine Putzfrau braucht, das muss er doch noch alleine schaffen. Auch die Einstellung der Medikamente ist noch nicht gelungen, er fühlt sich unwohl wegen der Nebenwirkungen. Aber er scheut davor zurück, seinen Arzt aufzusuchen und das Problem zu thematisieren, manchmal nimmt er deshalb die Medikamente erst gar nicht ein. Das Misstrauen gegenüber Ärzten und Ärztinnen ist groß, die Angst vor Entwürdigung und Demütigung nicht wegzudenken:
"(...) Deswegen bin ich ja auch nicht ins Krankenhaus gegangen zur Operation, vergangenes Jahr im Dezember. (...) Um acht Uhr morgens hatten sie mich bestellt, um halb zwei kam dann erst die ganz simple Untersuchung, Ultraschall. Wie ich da nachfragte, ich hab' mich nicht beschwert, ich bin schon ein Dussel, ein Lamm, zur Schlachtbank lass' ich mich aber nicht führen. Da bekam ich dann diese sehr aufschlussreiche Auskunft: 'Ja, wir bestellen die Patienten alle morgens hierher, die da untersucht werden sollen, und wenn die Ärzte dann mal Zeit haben, dann untersuchen die die Patienten.' Das habe ich dort im Krankenhaus erlebt, zweimal, dass man wirklich noch auf diesem wirklich ganz unmenschlichen Standpunkt steht, der Patient ist auf uns angewiesen, ihn können wir zappeln lassen. Der Arzt erzieht seinen Patienten, in der Zeitschrift für Psychologie kann man es nachlesen. Besser noch, wenn man den Patienten nackt warten lässt. Das ist die Erziehungsmethode, es gibt doch nichts Hilfloseres als einen nackten Menschen, der warten muss. (...)"
Er stellt eine Verbindung zwischen seinen Herzproblemen und seinen Verfolgungserfahrungen her und dabei weitere Gedanken in den Raum:
"(...) Ich möchte das natürlich absolut nicht ausschließen, dass einen die Vergangenheit, ob bewusst oder unbewusst – meist ist es unbewusst – auf Schritt und Tritt verfolgt. Das hat nichts irgendwie Psychopathologisches, um es schlicht mit Freud zu sagen. Ich weiß, dass ich hin und wieder noch Alpträume habe und ich da entsetzt bin. Das ist jetzt umso schlimmer, denn ich habe kein gesundes Herz mehr. Wenn ich dann aufwache und sage: Mensch, wann wirst du bei solch einem Alptraum einen Infarkt bekommen, einen tödlichen? Na ja, es ist dann kein schlimmer Tod. Lieber an einem Alptraum krepieren, um es mal salopp zu sagen, als von fremden Personen irgendwo gepflegt zu werden, wenn es böse ist, geschunden zu werden. Und da gibt es ja nun wahrlich Berichte genug über die Altenheime. (...)"
In der Rehabilitation habe man ihm gesagt, er solle sich regelmäßig bewegen, aber es ist schwer, sich allein zu motivieren:
"(...) Ich gehe viel spazieren, wenn es das Wetter erlaubt, wenn ich mich aufraffen kann, mich von meinen Büchern trennen kann... (...) Doch, natürlich, wenn man Anstoß bekommt, dann ist das leichter, aber dann muss ich mich selber anstoßen: der unbewegte Beweger. (...)"
Sich durch die Teilnahme an einer sogenannten Herzgruppe hierin unterstützen zu lassen, lehnt er ab:
"(...) Und ich weiß auch nicht, ob es das irgendwo angebracht ist bei mir, durch meinen Werdegang bzw. meine geistigen Interessen. Ich gehe gern spazieren mit jemandem. Beispielsweise, mein Freund, mit dem ich mich da unterhalten kann, über dieses und jenes, nicht irgendwelchen Tratsch und Klatsch, sondern was er in dieser oder jener Zeitung oder Zeitschrift gelesen hat. Das ist wirklich ein dialogisches Gespräch. (...)"
Zwei gute Freunde, Kommilitonen aus der Studienzeit, hat Karl D., aber beide wohnen in einer anderen Stadt, sodass man sich nicht so oft sehen kann, wie es allen gut tun würde. Die beiden waren es auch, die sich bei seinem Infarkt um ihn gesorgt, ihn im Krankenhaus besucht und sich um seine Wohnung gekümmert haben. Karl D. hat in M. nicht viele Bekannte und ist gegenüber seiner eigenen Generation misstrauisch, im Gegensatz zur Jugend, von deren noch spielerischer Uneindeutigkeit er begeistert ist:
"(...) Leute, die ihre Sozialisation im Obrigkeitsstaat, im Polizeistaat, im NS-Staat erfahren haben, da kann ich nichts anderes mehr erwarten, als dass sie mit dieser Mentalität wieder von dieser Welt gehen. Ja, das steckt da drin. (...) Und das kann man im Alter dann natürlich nicht mehr ablegen, ein hartes männliches Gesicht. (...) Sensibilität war ja total pervers, unmenschlich, rassisch minderwertig, usw. usf. (...) Als Kinder mussten wir schon mal marschieren. Und ich hasste das Marschieren. Ich hasste das Marschieren. Ein Kind will nicht marschieren, ein Junge will spielen, das ist aber doch nicht: eins, zwei, eins, zwei, rechts, links. Und wenn das ein Subjekt, ein Junge, akzeptiert und dann da hinein wächst, das prägt auch. Stahlharte Gesichter. 'Das will ich, eine stahlharte Jugend, schnell wie Windhunde und hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder'. Und das kann man ja heute an den Jugendlichen sehen, nicht, die Haarschnitte, die schönen langen Haarschnitte usw. usf. Das ist das Schöne, dieser Unisex, dieses Androgyne, nicht wahr, das mir persönlich junge Menschen so sympathisch macht, ob nun Junge oder Mädchen. (...)"