Behinderung, Krankheit und Euthanasie im Nationalsozialismus

Widerstand

Einige Menschen wagten es, ihre Meinung über das Morden zu äußern. Manche waren bekannte Persönlichkeiten, wie der Münsteraner Bischof Clemens Graf von Galen, andere waren einfach „normale“ Bürger und Bürgerinnen, wie Paula F. aus Hadamar. Graf von Galen war innerhalb der Kirchen vermutlich der erste, der öffentlich über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen predigte. Seine Predigt trug mutmaßlich zur Beendigung der Tötungen durch Gas bei.

Predigt von Bischof Clemens Graf von Galen:

"Seit einigen Monaten hören wir Berichte, daß aus Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke auf Anordnung von Berlin Pfleglinge, die schon länger krank sind und vielleicht unheilbar erscheinen, zwangsweise abgeführt werden. Regelmäßig erhalten dann die Angehörigen nach kurzer Zeit die Mitteilung, die Leiche sei verbrannt, die Asche könne abgeliefert werden. Allgemein herrscht der an Sicherheit grenzende Verdacht, daß diese zahlreichen unerwarteten Todesfälle von Geisteskranken nicht von selbst eintreten, sondern absichtlich herbeigeführt werden, daß man dabei jener Lehre folgt, die behauptet, man dürfe sogenanntes 'lebensunwertes' Leben vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts mehr wert. Eine furchtbare Lehre, die die Ermordung Unschuldiger rechtfertigen will, die die gewaltsame Tötung der nicht mehr arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen grundsätzlich freigibt. (…)
So müssen wir damit rechnen, daß die armen wehrlosen Kranken über kurz oder lang umgebracht werden? Warum? Nicht weil sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben, nicht etwa, weil sie ihren Wärter oder Pfleger angegriffen haben, so daß diesem nicht anderes übrig blieb, als daß er (…) in gerechter Notwehr dem Angreifer mit Gewalt entgegentrat. (…) Nein, nicht aus solchen Gründen müssen jene unglücklichen Kranken sterben, sondern darum, weil sie nach dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten irgendeiner Kommission „lebensunwert“ geworden sind, weil sie nach diesem Gutachten zu den 'unproduktiven Volksgenossen' gehören. Man urteilt: Sie können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das unheilbar lahm geworden ist, sie sind wie eine Kuh, die nicht mehr Milch gibt. (…) Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen! Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden? Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, daß man den „unproduktiven“ Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Wenn man die unproduktiven Menschen töten darf, dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozess ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren! Wenn einmal zugegeben wird, daß Menschen das Recht haben, „unproduktive“ Mitmenschen zu töten, (…) dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben." (24)

Fragen zur Predigt:

  1. Lest den Text der Predigt. Arbeitet die Gründe heraus, die von Galen gegen die Tötung von Menschen mit Behinderungen aufführt.
  2. Welche Argumentation, glaubt ihr, leuchtete den Zuhörenden damals am meisten ein? Begründet Eure Entscheidungen, diskutiert sie in Vierergruppen. Schreibt die Argumente und Eure Begründungen in Stichworten auf Kärtchen und ordnet sie alle zusammen an einer Pinnwand an.

Fragen zu Paula F.:

Lest den Text über Paula F. und überlegt, warum sie so viel Mut hatte.

Text über Paula F.:

Paula F., Jahrgang 1919, aus Hadamar, arbeitete 1941 als Verkäuferin in Limburg. Sie wußte von den Gasmorden und den Verbrennungen auf dem Mönchberg (Hügel, auf dem die Heil- und Pflegeanstalt sich befand, die Verfasserin) und hatte auch miterlebt, wie die Kranken erst mit der Bahn und dann mit den Bussen ankamen. Während einer Mittagspause im Spätsommer 1941 fand in Limburg folgende Unterhaltung zwischen ihr und den Kolleginnen statt: Der Vater von zwei Kolleginnen, der als Patient auf dem Hofgut Schnepfenhausen (gehörte zur Anstalt, die Verfasserin) gelebt hatte, verstarb plötzlich. Die Kolleginnen fragten Paula F., ob es wahr sei, daß in Hadamar Menschen vergast und dann verbrannt würden. Paula F. antwortete, daß es stimme und sich der Bischof von Münster in seiner Predigt heftigst gegen diese Krankenmorde ausgesprochen hätte. Einige Wochen später fragte die Gestapo Paula F. in einem Verhör nach der von Galen-Predigt, von der sie eine Abschrift besaß. Am 6. November 1941 wurde sie verhaftet und in das Frankfurter Untersuchungsgefängnis eingeliefert. Dort hielt man sie bis zum 7. Februar 1942 gefangen. Ohne Gerichtsverhandlung kam die damals 22-jährige anschließend für ein halbes Jahr in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Nach ihrer Entlassung aus dem KZ, am 15. August 1942, mußte Paula F. in Frankfurt ein Papier unterschreiben, daß es ihr gutgegangen sei und sie nichts über das Lager berichten würde. Wieder in Hadamar wurde Paula F. vorerst von den Leuten gemieden; sie durfte nicht mehr als Verkäuferin arbeiten und wurde deshalb zur Akkordarbeit in einer Blechwarenfabrik verpflichtet. Nach eigener Einschätzung ist Paula F. als abschreckendes Beispiel für die restliche Hadamarer Bevölkerung verhaftet und in ein KZ gesperrt worden. (25)

Paula F. lebte bis zu ihrem Tod (2004) in Hadamar. Sie trat häufig als Zeitzeugin auf und berichtete über ihre Erlebnisse von 1941/42.

Fragen zum Verhalten der Bevölkerung:

Überlegt euch, wie die Hadamarer Bevölkerung es fand, dass Paula F. immer wieder als Zeitzeugin über ihre Erlebnisse von 1941/42 berichtete. Diskutiert alle zusammen darüber.


Quellen:
24: Zitiert nach Klee, Ernst (Hg.):Dokumente zur "Euthanasie", Frankfurt am Main 1986, S. 194-198.
25: Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.): Verlegt nach Hadamar a.a.O., S. 159