Behinderung, Krankheit und Euthanasie im Nationalsozialismus

Politische Teil-Erfolge

Der Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. schreibt:
"Am 24. Mai 2007 haben wir endlich die Rehabilitation der Zwangssterilisierten und "Euthanasie"-Geschädigten erreichen können, d. h. sie von dem Stigma zu befreien, in der NS-Zeit als "lebensunwert" gegolten zu haben und durch das rassistische Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verfolgt worden zu sein. Die Erklärung, über die im Bundestag in unserem Sinne abgestimmt wurde, hat die Bezeichnung Bundestagsdrucksache 16/3811(PDF, KB, nicht barrierefrei). Diese Rehabilitation der Zwangssterilisierten und "Euthanasie"-Geschädigten ist, das muss man klar sagen, ein Kompromiss, der mit den Stimmen der CDU/CSU und SPD erreicht wurde.
Die jetzt gültige Rechtssituation geht davon aus, dass das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nie in der Bundesrepublik Deutschland gegolten habe und dass es von Anfang an nicht mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vereinbar gewesen sei. Man geht aus heutiger Sicht davon aus, dass diese Rechtssituation seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland bestanden habe. Dies ist die juristische Sicht aus der Perspektive des Jahres 2007.
Dass die historische Entwicklung eine andere war, haben die Opfer durch die vielen vergeblich geführten Prozesse und die Einschätzung ihres Erlittenen in der Vergangenheit als "nicht-typisches NS-Unrecht" erfahren.
Die Interpretation dieser Bundestagsdrucksache und die dazugehörenden Kommentare bedeuten für die Opfer außerdem, dass sie ab Mai 2007 als rassisch verfolgte Opfergruppe gelten müssen. Ein seit vielen Jahren angestrebtes Ziel haben wir damit erreicht." (29)

Fragen zur Entschädigung (1):

Wie aus den Texten des Bundes der "Euthanasie"-Geschädigten deutlich wurde, erhielten die Opfer keine Entschädigung.

  1. Recherchiert in Gruppen im Internet, welche Opfergruppen durch das Bundesentschädigungsgesetz entschädigt wurden. Welche anderen Opfergruppen (außer den "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten), die nicht entschädigt wurden, fallen euch ein? Kennt ihr Menschen in eurer Umgebung, die Familienmitglieder, Freundinnen oder Freunde oder Bekannte hatten, die Opfer des Nationalsozialismus gewesen sein könnten?
  2. Lest den Text-Auszug aus dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG). Überlegt, warum die Bundesregierung den Opfern durch dieses Gesetz eine geringe finanzielle Unterstützung zugesprochen hat.
  3. Überlegt in euren Gruppen, warum nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht alle Opfer gleich behandelt wurden.

 

Text: Allgemeines Kriegsfolgengesetz (AKG) - Härterichtlinien

a) Geltungsbereich
Leistungen nach den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) - AKG-Härterichtlinien - vom 1. September 2004 (BAnz. S. 20921), zuletzt geändert am 13. September 2005 (BAnz. S. 15698), sollen Personen zugute kommen, die nicht Verfolgte im Sinne des § 1 BEG sind, aber wegen ihrer körperlichen oder geistigen Verfassung oder wegen ihres gesellschaftlichen oder persönlichen Verhaltens vom NS-Regime als Einzelne oder als Angehörige von Gruppen angefeindet wurden und denen deswegen Unrecht zugefügt wurde. Die Leistungen sollen Härten mildern, die trotz der gesetzlichen Entschädigungsregelung nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz wegen Versäumung gesetzlicher Antragsfristen oder aus anderen Gründen verblieben sind.
Nach den AKG-Härterichtlinien können einmalige Beihilfen bis zu 2.556,46 € gewährt werden (IV 2. d). Darüber hinaus sehen die Richtlinien für besondere Ausnahmefälle, in denen außergewöhnliche Umstände die Gewährung einer weitergehenden Hilfe erforderlich machen, laufende Leistungen vor.
Die AKG-Härterichtlinien bezwecken keinen finanziellen Ausgleich für Kriegsschäden, reine Vermögensschäden sowie für Vorkriegs- oder kriegsbedingte Lebensbeeinträchtigungen aller Art.

b) Antragsberechtigte
Antragsberechtigt nach diesen Richtlinien sind alle durch NS-Unrecht geschädigten Personen, die nicht Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes sind.
Zu den Antragsberechtigten gehören verschiedene Gruppen von Personen, die durch rechtsstaatswidrige Handlungen von Rechtsträgern des Deutschen Reichs geschädigt wurden. Hier sind zunächst die Opfer von Sterilisation und Euthanasie zu nennen.
Ferner kann es sich um Personen handeln, die von NS-Staats- oder Parteiorganen als "Arbeitsscheue", "Arbeitsverweigerer", "Asoziale", "Homosexuelle", "Wehrkraftzersetzer", "Wehrdienstverweigerer", "Kriminelle", "Landstreicher" angesehen und deshalb NS-Unrechtsmaßnahmen ausgesetzt waren, z. B. in Konzentrationslagern oder ähnlichen Einrichtungen gefangen gehalten wurden. Fälle psychiatrischer Verfolgung kommen ebenfalls in Betracht. Auch der so genannte Jugendwiderstand kann je nach Einzelfall zu Leistungen nach den Richtlinien führen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist zu einzelnen dieser Personengruppen und Schadenssachverhalte Folgendes zu bemerken:

Zwangssterilisierte

Zwangssterilisierte, die die Voraussetzungen für Entschädigungsleistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz nicht erfüllen, erhalten aufgrund der AKG-Härterichtlinien auf Antrag eine einmalige Beihilfe von 2.556,46 € sowie laufende monatliche Zahlungen in Höhe von 120 €.
(…)

Euthanasie Opfer

Die so genannten Euthanasie-Anstalten werden als Haftstätten im Sinne der Richtlinien angesehen, weil in ihnen die Menschenwürde regelmäßig missachtet wurde und die Insassen in ständiger physischer und psychischer Bedrohung leben mussten. Hierzu rechnen die Anstalten Grafeneck/Württ., Hartheim bei Linz, Sonnenschein bei Pirna, Bernburg/Saale, Hadamar bei Limburg und Brandenburg/Havel.
Auch hinterbliebene Ehegatten und Kinder von NS-Opfern, die in so genannten Euthanasie-Anstalten umgekommen sind, können unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere wenn ihnen Unterhaltsleistungen entgangen sind, Leistungen erhalten. (30)

Fragen zur Entschädigung (2):

Erst 2007 wurden die Opfer von Zwangssterilisation und NS-"Euthanasie"-Morden als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde, nachdem es bisher in der Bundesrepublik lediglich außer Kraft gesetzt worden war, abgeschafft. Eine gesetzliche Grundlage zur materiellen Entschädigung der Opfer gibt es allerdings auch heute nicht, sodass sie weiterhin nur einen kleinen Betrag nach den AKG-Härterichtlinien erhalten können.

  1. Lest in Gruppen die Entscheidung des Deutschen Bundestages zur Aufhebung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Jahre 2007.
  2. Überlegt, was es für die Angehörigen von „Euthanasie“-Opfern und für zwangssterilisierte Menschen bedeutet hat, dass sie lange Zeit nicht als NS-Verfolgte anerkannt wurden und dass sie auch nach der Anerkennung so gut wie keine materielle Entschädigung erhielten und nicht mit den anderen Verfolgtengruppen gleichgestellt wurden.

 

Text: Bundestags-Drucksache 16/3811

Berlin, den 13. Dezember 2006
Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion, Dr. Peter Struck und Fraktion
Drucksache 16/3811 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode:

Das "Erbgesundheitsgesetz", die hierzu ergangenen Ausführungsverordnungen, die Kommentare, die Rechtsprechung und die ausführenden Taten selbst müssen als Einheit betrachtet werden. Eine Unterscheidung zwischen Gesetz und Anwendung setzt eine funktionierende Gewaltenteilung voraus. Diese Voraussetzung war im totalitären nationalsozialistischen Staat nicht gegeben. (…) Das Gesetz selbst ist Ausdruck der nationalsozialistischen Ideologie, welche die unantastbare Würde jedes Menschen verneint, indem sie den Einzelnen der rassistischen Wahnidee der "Reinigung des Volkskörpers" unterordnet und als letzte Konsequenz "ausmerzt". Nicht nur die auf diesem Gesetz beruhenden Gewaltmaßnahmen, sondern das diese Gewaltmaßnahmen legalisierende „Erbgesundheitsgesetz“ selbst ist somit als Ausdruck der menschen- verachtenden nationalsozialistischen Auffassung vom "lebensunwerten Leben" anzusehen.
Die Gültigkeit des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 (RGBl. I S. 529; geändert durch die Gesetze vom 26. Juni 1935, RGBl. I S. 773, und 4. Februar 1936, RGBl. I S. 119) endete mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, soweit es dem Grundgesetz widersprach (Artikel 123 Abs. 1 GG). Die wenigen danach noch gültigen Vorschriften über Maßnahmen mit Einwilligung des Betroffenen wurden durch Artikel 8 Nr. 1 des Gesetzes vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) aufgehoben. Das Gesetz ist damit definitiv in keiner Weise mehr existent. Die Besorgnis mancher Opferverbände, das Gesetz könne wieder in Kraft gesetzt werden, ist unbegründet.
Der Deutsche Bundestag hat in seinen Entschließungen vom 5. Mai 1988 (Bundestagsdrucksache 11/1714) und 29. Juni 1994 (Bundestagsdrucksache 12/7989) festgestellt, dass die auf der Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durchgeführten Zwangssterilisationen nationalsozialistisches Unrecht waren. Der Deutsche Bundestag ächtete in diesen Entschließungen diese Maßnahmen als Ausdruck der inhumanen nationalsozialistischen Auffassung vom „lebensunwerten Leben“. Der Rechtsausschuss stellte zuvor in der Begründung seiner Beschlussempfehlung vom 26. Januar 1988 (11/1714) fest, dass "das Gesetz in seiner Ausgestaltung und Anwendung nationalsozialistisches Unrecht ist". In der 13. Wahlperiode wurden mit dem Gesetz vom 25. August 1998 (BGBl. I S. 2501) sämtliche Beschlüsse der "Erbgesundheitsgerichte", welche eine Unfruchtbarmachung anordneten, aufgehoben.
(…)
II. Der Deutsche Bundestag bekräftigt erneut, dass die im "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 vorgesehenen und auf der Grundlage dieses Gesetzes durchgeführten Zwangssterilisierungen nationalsozialistisches Unrecht sind. Er bekräftigt erneut die Ächtung dieser Maßnahmen als Ausdruck der inhumanen nationalsozialistischen Auffassung vom „lebensunwertem Leben“.
III. Der Deutsche Bundestag erstreckt diese Feststellung und diese Ächtung ausdrücklich auf das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 selbst, soweit dieses Zwangssterilisierungen rechtlich absichern sollte. Die gesetzlich vorgegebene Handlungsanweisung und die aufgrund dieser Anweisung durchgeführten Zwangsterilisationen können vor dem Hintergrund einer totalitären Staatspraxis nicht voneinander getrennt werden. Beides ist Ausdruck der gleichen verbrecherischen national-sozialistischen "Weltanschauung". Beidem gebührt die gleiche Ächtung. (…)
IV. Der Deutsche Bundestag stellt fest, dass mit dem "Erbgesundheitsgesetz" ein Weg beschritten wurde, der mit grauenhafter Notwendigkeit zielgerichtet in das "Euthanasie"-Massenmordprogramm führte. Die hohe Todesrate bei den Zwangssterilisationen enthüllt überdeutlich den Charakter des "Erbgesundheitsgesetzes" als Vorstufe des "Euthanasie"-Massenmords.
V. Der Deutsche Bundestag bezeugt den Opfern der Zwangssterilisierung und ihren Angehörigen erneut seine Achtung und sein Mitgefühl. Er tut dies in der Annahme, durch die nun erfolgte Ächtung des "Erbgesundheitsgesetzes" selbst jegliche Zweifel an seinem Willen zu einer umfassenden Genugtuung und Rehabilitierung der Betroffenen beseitigt zu haben. (31)

Fragen zum Menschenbild:

Die Gedanken, die hinter dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" standen, waren mit Kriegsende nicht vergessen. Vielmehr gab es einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich vorstellen konnten, auch in den 1950er Jahren bestimmte Personengruppen sterilisieren zu lassen.

  1. Lest den folgenden Text und besprecht unklare Stellen.
  2. Arbeitet in Vierergruppen und schreibt eure Ergebnisse jeweils auf eine Wandzeitung: Warum wollten Ärzte und Ärztinnen auch nach 1945 so genannte "verwahrloste Jugendliche" sterilisieren? Schreibt auf, welches Bild von Menschen sich dahinter verbirgt. Wie verträgt sich dies mit dem Grundgesetz, das seit 1949 in Kraft ist? Glaubt ihr, dieses Gedankengut findet man heute noch? Wie soll in einer Demokratie damit umgegangen werden?

Text über das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"

Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde nach dem 8. Mai 1945 durch die Kontrollratsgesetze nicht aufgehoben. (…) Eine Aufhebung erfolgte nicht. Ein Großteil der NS-Gesetzgebung, dazu gehörte auch dieses Gesetz, rettete sich so in die neue Bundesrepublik hinüber und bestand lange Zeit fort. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, mit dessen Hilfe rund 350.000 Personen sterilisiert worden waren, hatten die Besatzungsmächte somit nicht explizit außer Kraft gesetzt oder aufgehoben, und im Nürnberger Juristenprozess war es – zugunsten der Angeklagten – sogar als "vernünftigerweise diskutierbar" bezeichnet worden. Weil man aber die Erbgesundheitsgerichte aufgelöst hatte, gab es keine Institutionen mehr, die das nach wie vor als gültig (da "nicht-nationalsozialistisch") angesehene Gesetz anwenden konnten. Wenn es auch in erster Linie die Ärzteschaft war, die darauf drängte, angesichts der vielen "verwahrlosten Jugendlichen" endlich wieder Zwangssterilisationen durchzuführen, trieb die Sorge um die Erbgesundheit des deutschen Volkes auch Juristen um. 1951 forderte die Hamburger Justizbehörde, dass "die Frage ob und wann Unfruchtbarmachung zulässig sei, von den gesetzgeberischen Organen des Bundes neu entschieden werden müsse, unter gebührender Beachtung der bereits vor 1933 von der Wissenschaft festgelegten Grundsätze und Erfahrungen der Eugenik". (32)


Quellen:
29: euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de/bez_wir-ueber-uns.html (17.09.2010).
30: www.bundesfinanzministerium.de/nn_4394/DE/BMF__Startseite/Service/Broschueren__Bestellservice/Das__Ministerium/40144,templateId=raw,property=publicationFile.pdf (17.09.2010).
31: dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/038/1603811.pdf (17.09.2010).
32:   Scheulen, Andreas: Zur Rechtslage und Rechts-Entwicklung des Erbgesundheitsgesetzes 1934, in: Hamm, Margret (Hg.): Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisation und "Euthanasie" (= Eine Publikation des Bundes der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. Detmold), S. 212-219, hier S.212 f.