Behinderung, Krankheit und Euthanasie im Nationalsozialismus

Die Angehörigen

Viele Menschen, die als Patientin oder Patient in Anstalten lebten, hatten wenig oder keinen Kontakt zu ihren Angehörigen. Manche Angehörige hingegen besuchten ihr Familienmitglied, wann immer es möglich war. Je weiter der Krieg voranschritt, desto schwieriger war dies, zum Beispiel, da sich die Verkehrslage verschlechterte. Im Folgenden sind zwei Beispiele von sich sorgenden Angehörigen dargestellt. Es handelt sich um die Eltern des Mädchens Edith Sch. und um die Ehefrau von Georg S.. Sowohl Edith Sch. als auch Georg S. waren nur wenige Wochen Patientin bzw. Patient in Hadamar.

Beispiel 1: Edith Sch.

Edith Sch. wurde am 12. Juni 1936 in Gießen geboren und bereits am 30. Juni 1940 in der Landesheilanstalt Scheuern aufgenommen. Die Diagnose lautete Hydrozephalus (Wasserkopf). Aus dem Briefkontakt der Eltern mit der Anstaltsleitung geht hervor, dass sie sich regelmäßig meldeten und ihr Kind besuchten, sooft es möglich war. Nach einem dieser Besuche schrieb Ediths Vater an den Anstaltsdirektor der Landesheilanstalt Scheuern:

Briefwechsel von Ediths Eltern mit dem Anstaltsdirektor der Landesheilanstalt Scheuern:

02.12.1941
"Sehr geehrter Herr Direktor!
(...) Meine Frau und ich waren dann auch nicht wenig erstaunt über das abgemagerte und schwache Kind. (...) Mir scheint, als ob Sie für diese Kinder nicht das erhalten, was anderen Kindern ausserhalb der Anstalt zugebilligt wird." (5)

Der Direktor antwortete daraufhin:
19.12.1941
"Sehr geehrter Herr Sch.!
(...) Ich kann Ihre und Ihrer Frau Sorge gut verstehen. Die Ernährung gerade dieser ganz schwachen Kinder ist durch die Kriegsverhältnisse besonders schwierig geworden. Da diese Kinder nicht kauen (...) verdaut der Körper nicht richtig und es gibt Verdauungsstörung. (...) Ich habe wegen Ihrer Besorgnisse eingehend mit dem Arzt gesprochen, der eine zweckentsprechendere und bekömmlichere Beköstigungsweise angeordnet hat, und nehme an, dass die Kleine daraufhin wieder besser verdauen und wieder kräftiger werden wird. (...) Ebenso lasse ich Ihnen die übersandte Milchkarte hierbei wieder zugehen. Es ist nicht angebracht, die Milch Ihrem gesunden Kind zu entziehen." (6)

Etwa ein Jahr später wandte sich die Mutter an die Anstaltsleitung:
24.11.1942
"Ich habe meinem vorletzten Paket ein Schreiben beigelegt, in dem ich Schwester Lina bat, mir doch einmal Nachricht zu geben über das Befinden meines Töchterchens Edith. Bis jetzt habe ich noch keinen Bescheid erhalten und bin in Sorge ob meine Pakete dort angekommen sind. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn sie mir in Kürze einmal schreiben würden, ob die Päckchen eingetroffen sind und ob Edith gesundheitlich auf der Höhe ist." (7)

Antwort des Direktors:
28.11.1942
"Sehr geehrte Frau Sch.!
Wenn Ihnen Schwester Lina auf Ihre Anfrage nicht geantwortet hat, dann liegt das wohl daran, dass es unserm Pflegepersonal im allgemeinen nicht gestattet ist, mit den Angehörigen der Pfleglinge in direkte briefliche Verbindung zu treten. Die Pakete sind jedenfalls alle eingegangen. Edith ist körperlich soweit ganz gut in Ordnung. Etwas besonderes liegt nicht vor bei ihr." (8)

Am 18. Februar 1943 wurde Edith nach Hadamar verlegt. Mit Datum vom 19. Februar 1943 informierte der Direktor der Landesheilanstalt Hadamar, Dr. Adolf Wahlmann, die Mutter darüber, es bestehe Lebensgefahr.

19.02.1943
"Sehr geehrte Frau Sch.,
Das körperliche Befinden Ihres Töchterchens Edith hat sich hier verschlechtert. Da ausgesprochene Herzschwäche besteht, ist Lebensgefahr nicht ausgeschlossen. Besuch ist gestattet." (9)

Frau Sch. eilte nach Hadamar und holte ihr Kind am 22. Februar 1943 gegen den Willen des Arztes aus der Landesheilanstalt.
"Ich bescheinige, dass ich mein Kind Edith Sch., geb. 12.6.36 zu Giessen, gegen den Willen des Arztes der Landesheilanstalt Hadamar aus der Anstalt genommen habe und darauf aufmerksam gemacht worden bin, dass ich für alle Folgen die aus dieser Entlassung entstehen, aufzukommen habe." Unterschrift: Aenne Sch. (10)
Dr. Wahlmann vermerkte in der Akte: "Mutter kommt heute zu Besuch. Ganz uneinsichtig. Will das Kind mitnehmen. Entlassen." (11)

Edith Sch. starb wenige Tage später. Offenbar hatte sie bereits zu viele Beruhigungsmittel vom Personal erhalten. Nach Ediths Tod ermittelte die Staatsanwaltschaft Limburg gegen Aenne Sch.

Fragen zum Briefwechsel von Ediths Eltern mit dem Anstaltsdirektor:

Lest die Briefausschnitte aufmerksam durch.

  1. Was erfahrt ihr über die Ernährungssituation in den Anstalten?
  2. Warum schickte der Arzt die Milchkarte für das „gesunde Kind“ der Familie Sch. zurück?
  3. Edith war zum Zeitpunkt ihres Todes noch nicht einmal sieben Jahre alt. Setzt euch in Fünfergruppen zusammen und gestaltet eine Collage: Was meint ihr, welche Wünsche und Hoffnungen hatte Edith für ihr Leben? Was mochte sie gerne, was vermisste sie in den Jahren in Scheuern und Hadamar?


Beispiel 2: Georg S.

Die folgenden Briefausschnitte dokumentieren die Auseinandersetzung der Ehefrau von Georg S. mit der Anstaltsleitung in Hadamar.
Georg S., geboren am 8. November 1907 in Langen, wurde am 13. November 1942 von der Universitätsnervenklinik Frankfurt am Main in die Landesheilanstalt Eichberg aufgenommen. Elf Monate später, am 13. Oktober 1943, verlegte man ihn nach Weilmünster. Ein weiteres knappes Jahr später, im September 1944, kam er nach Hadamar.

Briefwechsel der Ehefrau von Georg S. mit der Anstaltsleitung in Hadamar:

Schreiben der Ehefrau an die Anstaltsleitung Hadamar:

04.10.1944
"Ich bin sprachlos das mein Mann Georg S. nach dort gekommen ist. Da ich weiss von anderen Seiten das Hadamar die letzte Station für diesen Mann ist, möchte ich Sie bitten die Leiche meines Mannes zu verbrennen die Urne hole ich mir dann Persönlich ab. Für die Kosten der Beerdigung komme ich Persönlich aus. Sie verlangen von mir eine Heiratsurkunde, leider kann ich Ihnen dieselbe nicht besorgen. Mein Traubuch gebe ich nicht aus den Händen. Da Sie dort ja auch wissen, dass Frankfurt a. M. nur aus Trümmern besteht. Jetzt nach Frankfurt zu fahren ist mit dem leben gespielt, denn die Züge werden zuviel beschossen. Auch möchte ich in die Stadt nicht zurück wo ich alles verloren hab, denn nochmals meine Trümmer ansehen nein." (12)

Antwort durch den Verwaltungsleiter Klein:

06.10.1944
"Ich bestätige den Empfang Ihres Briefes vom 4. ds. Mts. Es tut mir leid, Sie wegen Ihrer Bemerkung, dass Hadamar die letzte Station sei für Ihren Mann, gerichtlich belangen zu müssen. Sie werden dann Gelegenheit haben zu sagen, von wem Sie derartige Verleumdungen wissen. Es dürfte Ihnen bekannt sein, dass wir eine staatliche Anstalt sind und wir uns derartige Verunglimpfungen nicht gefallen lassen können. Bezeichnender Weise haben Sie bereits im März und Juni d.Js. der Anstalt Eichberg mitgeteilt, dass Sie im Falle des Ablebens Ihres Mannes die Feuerbestattung der Leiche wünschen. Es sieht fast so aus, als würde der Tod Ihres Mannes gewünscht." (13)

Schreiben der Ehefrau an die Verwaltung der Landesheilanstalt Hadamar:

09.10.1944
"(...) Sie dürfen mich ruhig anzeigen. Ich weiss es von einem Pfleger der Nervenklinik. Der Pfleger B. hat mir erzählt, das mein Mann ein Jahr nach dem Eichberg kommt, ein Jahr nach Weilmünster und dann nach Hadamar, das wäre die letzte Station. Es hat auch alles zugetroffen. Sie Schreiben da als ob ich den Tod von meinem Mann wünsch, ich wünschte ich wäre noch mit meinem Mann zusammen denn wir haben eine sehr glückliche Ehe gehabt, sonst hätte ich nicht 7 Monate mein Mann in diesem Zustand daheim behalten. Hätte ich heut noch ein Heim (ist ausgebombt, die Verfasserin) dann würde ich mein Mann wieder nach hause holen. Ich habe aber in allen Heimen für meinen Mann gesorgt, und gehungert damit ich ihm zu Essen schicken konnte." (14)

Georg S. starb am 17. November 1944 angeblich an Marasmus paraliticus (Schwächezustand, Lähmung).

Fragen zum Briefwechsel der Ehefrau von Georg S. mit der Anstaltsleitung:

  1. Warum drohte der Verwaltungsleiter der Ehefrau, Frau S.?
  2. Wie erklärt ihr euch ihren Mut?
  3. Schreibt einen fiktiven Brief, den Frau S. nach dem Krieg an das Gericht hätte schreiben können. Wie hätte sie darin ihren Konflikt mit dem Verwaltungsleiter beschrieben?


Quellen:
4: Daum, Monika: Arbeit und Zwang, das Leben der Hadamarer Patienten im Schatten des Todes, in: Roer, Dorothee; Henkel, Dieter (Hg.): Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933-1945, S. 173-213, hier S.199-202
5: Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (= LWV-Archiv), Bestand K12, AN 1585, Schreiben des Vaters an die Direktion v. 02.12.1941.
6: Ebd., Schreiben des Direktors an den Vater v. 19.12.1941.
7: Ebd., Schreiben der Mutter an die Direktion v. 24.11.1942.
8: Ebd., Schreiben des Direktors an die Mutter v. 28.11.1942.
9: Ebd., Schreiben Wahlmanns an die Mutter v. 19.02.1943.
10: Ebd., Bescheinigung der Entlassung Ediths gegen den Willen des Arztes v. 22.02.1943.
11: Ebd., Krankengeschichte v. 22.02.1943.
12:  LWV-Archiv, Bestand 12, AN 2298, Schreiben der Ehefrau an die Direktion Hadamar v. 04.10.1944, orthographische Fehler im Original.
13: Ebd., Schreiben der Direktion an Ehefrau v. 06.10.1944.
14: Ebd., Schreiben der Ehefrau an Direktion v. 09.10.1944. Orthographische Fehler im Original.