Behinderung, Krankheit und Euthanasie im Nationalsozialismus

Aussagen der Tatbeteiligten der Jahre 1942-1945 im zweiten Hadamar-Prozess 1947

Auch die Tatbeteiligten der zweiten Mordphase in Hadamar standen 1947 vor Gericht.

Um den grausamen Alltag in der Tötungsanstalt Hadamar nachzuvollziehen, an dem das Personal beteiligt war, könnt ihr zunächst die Aussagen einiger Überlebender lesen.
Teilt die Gruppe anschließend in drei Kleingruppen ein. Jede Gruppe stellt eine der folgenden Personen dar:

  • Anwalt bzw. Anwältin des oder der Tatbeteiligten,
  • Freund oder Freundin des oder der Tatbeteiligten,
  • Mitangeklagter oder -angeklagte und Zellennachbar oder -nachbarin des oder der Tatbeteiligten.

Fragen zu den Tatbeteiligten:

  1. Überlegt in den Gruppen, was diese Person vor Gericht über die Tatbeteiligten und die Taten ausgesagt haben könnte. Lest euch gegenseitig eure fiktiven Aussagen vor. Überlegt, wie überzeugend sie euch erscheinen, ob ein Gericht auf dieser Grundlage die Angeklagten frei gesprochen hätte. Lest sie danach den anderen Gruppen vor. Erstellt gemeinsam eine erste Liste der verwendeten Argumente und Erklärungen. Diskutiert diese.
  2. Lest anschließend jeder und jede für sich die vier Aussagen der Täter und Täterinnen aus den Prozess-Protokollen. Erstellt anschließend gemeinsam eine zweite Liste mit verwendeten Erklärungen und vergleicht sie mit der ersten. Wo sind Ähnlichkeiten, wo Unterschiede?
  3. Überlegt für euch selbst: Woher kommen meine Vorstellungen über die Täterinnen und Täter? Besprecht eure Überlegungen mit eurer Sitznachbarin oder eurem Sitznachbarn.

Angeklagter Wahlmann (Arzt):

"Ich bin 1876 geboren, bin 70 Jahre alt. Seit 1903 bin ich Arzt. (…) Im Jahre 1933 trat ich zur Partei über. (…) Alles trat über und da habe ich mich auch entschlossen. Ich hatte keine innere Bindung und Ideen dafür und habe das auch zu meinem großen Nachteil bewiesen. (…) Nun kam ich nach Hadamar und blieb dort bis 1936. Und zwar mußte ich 1936 mit 60 Jahren in Pension gehen, weil ich schwere Herzmuskelentartung hatte, furchtbares Herzklopfen und Schwächezustände. (…) Meine Zeit der Pensionierung dauerte bis zum Jahre 1940. (…) Eines Tages (1942, die Verf.) erschien B. (…) und sagte mir, Hadamar ist wieder neu eingerichtet als Anstalt. (…) Ich ernenne Sie in Hadamar zum Chefarzt. Ich sagte zunächst: Herr Landesrat, das ist ja sehr ehrend für mich, aber warum werde ich nicht zum Direktor ernannt? (…) Ich habe im Einzelfall der Oberpflegerin oder dem Oberpfleger erklärt, daß der und der hin ist und der und der nicht. (…) Die Konferenz war vor der Visite. Es kann sein, daß ich dann gesagt habe, der und der kommt morgen dran, und daß diese Fälle dann am anderen Morgen bei der Konferenz durchgesprochen wurden. Ich glaube, die Oberpflegerin oder der Oberpfleger gaben mir einen Zettel für die, die heute gemacht werden sollten, im Anschluß an die gestrige Besprechung." (19)

Angeklagte S. (Verwaltungsangestellte):

"Ich heiße Paula S. und bin 35 Jahre alt. (…) Ich war lediglich auf die Partei gestoßen, weil ich Angestellte der Gauleitung Frankfurt a. M. wurde. (…) Ich war seinerzeit in Urlaub und brachte meine jüngste Schwester zum Landjahr weg. Ich wurde aus dem Urlaub zurückgerufen, da ich den Auftrag erhielt, nach Berlin zu fahren. (…) (S. arbeitete drei Jahre in Mordanstalten, die Verf.) Darauf gab ich meine Kündigung. Landesrat Bernotat kam dann eines Tages und Bernotat meinte, ich solle nicht gleich so heftig sein, und außerdem sei Personalmangel überall und ich sollte in der Anstalt verbleiben. Da sagte ich Bernotat, ich hätte wiederholt versucht, herauszukommen, er möchte mich gehen lassen. Daraufhin wurde mir meine Kündigung genehmigt zum September 1943. (…)
Ich habe es nachher auch nicht gewagt, einfach dem Dienst fernzubleiben, wie ich da eingesperrt worden wäre, also eine Möglichkeit auf diese Weise wegzukommen, wäre mir nicht gegeben gewesen. Ich habe immer wieder gekündigt, aber ohne Erfolg. Daß man mich in ein Konzentrationslager sperrt, das war mir auch gesagt worden. (…)" (20)

Angeklagter R. (Krankenpfleger):

"Es mag auch sein, daß ich in die Partei ging, daß ich vielleicht Arbeit bekäme. (…) Es hat aber lange gedauert, bis 1936, bis ich Arbeit in der Landesheilanstalt Weilmünster bekam. (…) Als Lernpfleger kam ich nach Weilmünster. Das Examen haben wir einheitlich mit „ausreichend“ bestanden. (…) Eingesetzt wurde ich in Herborn als Pfleger. (…) Am 28. Juli 1941 wurde ich versetzt nach Hadamar. (…) Das Gewissen geschlagen? Das schon. Aber es hatte doch alles gar keinen Zweck, sich darüber zu äußern, denn wo gab es für einen Pfleger eine Stelle, wo er sich beschweren konnte?! (…)
Dann habe ich mir wieder gesagt: der Arzt, der die Anordnungen gibt als Vorgesetzter, der trägt die Verantwortung. Denn es wird wohl jedem von den Pflegern und Pflegerinnen bekannt sein, daß es bei den Schulungen immer geheißen hat: den Anordnungen des Arztes ist unbedingt Folge zu leisten als Vorgesetzter. Weigert sich ein Pfleger oder führt er irrtümlicherweise etwas Falsches aus, so wird der betreffende Pfleger als unbrauchbar bezeichnet. (…) Für richtig gehalten, daß man Geisteskranke in dem Zustand nicht mehr weiter ernährt? Ja, Gedanken habe ich mir schon gemacht. Aber die Patienten, die man hatte, die waren körperlich so schlecht, daß sie manchmal überhaupt nicht mehr stehen konnten, daß sie zum großen Teil verhungert sind. Und da war es doch eine Wohltat von meiner Auffassung aus, daß solche Leute möglichst schnell starben.
Daß sie verhungert waren? Diese schlechte Ernährung. Die Leute bekamen weiter nichts wie Wassersuppe, (…) Brennnesselsuppe und dergleichen." (21)

Angeklagte K. (Krankenschwester):

"Nach Kriegausbruch erhielt ich durch den Polizeipräsidenten in Berlin einen Bereitstellungsschein, ich sollte mich für einen Einsatz, der u. U. einige Wochen dauern könne, bereithalten. Im Dezember 1939 folgte dann die Aufforderung, mich am 04. Januar 1940 im Columbushaus zu melden. (…) Wir wurden von einer Frau A. und Herrn H. empfangen, dann eröffnete uns Herr Blankenburg (…), welche Aufgabe uns erwartete. Er stellte uns vor die Tatsache, daß wir zur Durchführung einer Euthanasieaktion einberufen seien. Es wurde dabei vorgestellt, daß wir als erfahrene Pfleger aus den Heil- und Pflegeanstalten die Krankheitsbilder ja genau kennten und beurteilen könnten, daß es für die Schwerstkranken eine Erlösung sei, wenn man ihr Leben vorzeitig beende. Wir wurden dann gefragt, ob wir mitarbeiten wollten und nach einer Viertelstunde Bedenkzeit vereidigt, und unter Androhung schwerster Strafen zur Verschwiegenheit verpflichtet. Herr Blankenburg hatte uns vorher gesagt, Hitler habe ein Gesetz ausgearbeitet, das bereits fertig vorliegt, es werde allerdings mit Rücksicht auf den Krieg zunächst nicht veröffentlicht werden; deshalb sei die Geheimhaltung notwendig.
(…) daß ich des Mordes angeklagt werde, bitte ich das Gericht um Gerechtigkeit! Man kann mich unmöglich verantwortlich machen, für diese Gesetze des Dritten Reiches, daß dessen Bestimmungen nicht vollkommen waren, ist schließlich nicht Sache einer Schwester. Vor der Schwester am Krankenbett steht der Arzt. Ob er ein Brustwickel, Einlauf, Herztropfen oder Schlafmittel verordnet. In diesem Falle den Gnadentod. Ich habe den Gnadentod nicht als Mord betrachtet. Und bilde mir ein, daß wirklich nur der, wer Mitleid hat und mitleiden kann dieses versteht. (…) Ich möchte hiermit darauf hinweisen auf die schwere Verantwortung. Infektion und schwer Geisteskranke zu pflegen (sic!). Dazu kommt, daß auf meine Station nur hoffnungslose Fälle kamen. Ich bitte, dieses alles zu berücksichtigen." (22)


Quellen:
19: 2. Hadamarprozess vor dem Landgericht Frankfurt am Main, 24.2.1947, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abteilung 461, Nr. 32061, Bd. 7, S. 2,3,22,25,26.
20: 2. Hadamarprozess vor dem Landgericht Frankfurt a. M., 3.3.1947, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abteilung 461, Nr. 32061, Bd. 7, S. 17,19.
21:  2. Hadamarprozess vor dem Landgericht Frankfurt am Main, 26.2.1947, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abteilung 461, Nr. 32061, Bd. 7, S. 17,18,22,23.
22: Steppe, Hilfe: „Mit Tränen in den Augen zogen wir dann die Spritzen auf …“, in: Steppe, Hilde (Hg.): Krankenpflege im Nationalsozialismus, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1991, S. 135 f.