Behinderung, Krankheit und Euthanasie im Nationalsozialismus

1942-1945: Die zweite Phase der Anstaltsmorde in Hadamar

Das Ende der Gasmorde bedeutete nicht das generelle Ende der Tötungen in den Anstalten. Vielmehr begann nach den Gasmorden die regionale oder dezentrale Ermordung der Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Einrichtungen. In unzähligen Anstalten tötete das Personal die Opfer durch Nahrungsmittelentzug und überdosierte Medikamente, meist Beruhigungsmittel. Dies war wesentlich unauffälliger als die Tötung in sechs Mordzentren, zumal die Leichen nicht mehr verbrannt, sondern verscharrt wurden. Insgesamt starben bei den „Euthanasie“-Morden zwischen 1940 und 1945 bis zu 200.000 Menschen.

In Hadamar begann diese zweite Phase der Anstaltsmorde im August 1942. Scheinbar wurden wieder regulär Patientinnen und Patienten aus dem ganzen Gebiet des damaligen "Deutschen Reiches" aufgenommen. Viele von ihnen überlebten nur kurze Zeit in Hadamar, andere einige Monate oder sogar Jahre. Der Arzt konferierte täglich mit der Oberschwester und dem Oberpfleger, um zu überlegen, welche Patientinnen und Patienten abends getötet werden könnten. Die Nachtschicht verübte den Mord durch die Gabe überdosierter Beruhigungsmittel. In dieser Zeit gab es kaum Entlassungen; einige wenige Patientinnen und Patienten konnten fliehen.

Die Aussagen einiger Überlebender beschreiben den grausamen Alltag in der Tötungsanstalt Hadamar:

Aussagen Überlebender:

Das Gros der Patienten erhielt die denkbar schlechteste Versorgung. Sie waren nicht nur auf engstem Raum zusammengepfercht, "… daß man oft kaum durch die Krankensäle hindurchgehen konnte", sondern mußten auf Strohsäcken schlafen und bekamen eine absolute Hungerkost. Nach Aussage der Schwester Huber "… gab es dünne Suppen, von denen niemand leben konnte. Arbeitende Kranke erhielten besseres Essen…"

Charlotte H., die zu den arbeitenden Kranken zählte und die Mordaktion (…) überlebte, schrieb in einem Brief: "… Das Essen bestand morgens aus zwei dünnen Schnitten, mittags einer dünnen Suppe, ohne Fett und Mehl mit schwimmenden Kartoffelschalen, abends wieder eine Wassersuppe… Daß bei dieser Ernährung eine schnelle Abmagerung eintreten mußte, ist wohl erklärlich." Die zur Ermordung bestimmten Kranken erhielten außer dieser Wassersuppe vermutlich keine andere Nahrung. Bei Kranken, die durch den Nahrungsentzug bereits körperlich stark geschwächt waren, genügte eine geringe Dosis Tabletten, um sie zu töten. (…)
Über die hygienischen Verhältnisse in Hadamar berichtete Charlotte H.: "Wenn Transporte ankamen, reichten die Betten nicht aus, es mußten Strohsäcke heruntergebracht werden…" Die Strohsäcke befanden sich in einer Kammer im ersten Stock, neben dem Tagesraum der Patienten. "… Die verseuchten und urindurchtränkten Strohsäcke wurden niemals erneuert. Weder gewaschen noch mit frischem Stroh erneuert. Die Schlafdecken wurden nie gelüftet.

Es gab nur alle 14 Tage frische Leibwäsche. Das Personal hat sich besonders vor den schmutzigen Arbeiten gedrückt. Alles mußten die sogenannten Arbeitskranken tun. Mit einem Kasernenton wurden uns von ihnen die Anordnungen zugeteilt. Und wehe, wer es wagte zu widersprechen. Der fiel in Ungnade. Die meisten Menschen… hatten einen sehr quälenden Hautausschlag. Frau M. hatte sich mit dem Hautausschlag angesteckt. Wodurch sie Schmerzen hatte. Und dadurch nicht mehr so arbeiten konnte. Statt wo diese Krankheit in sehr kurzer Zeit heilbar ist, hat man dieses sonst so frohe und hilfebereite Menschenkind auch ermordet. Also wurden auch die Insassen, wenn sie die körperlich schwere Arbeit nicht mehr leisten konnten, ermordet. Sie nützten die Not und die Krankheit, solange es möglich war, körperlich und finanziell aus…"

Die Zeugin beobachtete auch die Tötungsvorgänge und schilderte: "… Es wurden täglich mehrere ins Ermordungszimmer nach hinten gebracht. Mir schrie das Herz bei dem Anblick… Nachdem die Totgeweihten dort hineingebracht waren, erhielten diese zuerst die berüchtigten Tabletten in Wasser aufgelöst… Diese Tötung mit den Tabletten dauerte meistens 2-3 Tage. Wenn dies geschah, wußten alle, was vorging…" Nach mehreren Aussagen von Patienten sollen die Tabletten auch im Essen aufgelöst und verabreicht worden sein. (…)

Männliche Patienten zwang man, als Leichenträger zu arbeiten. Die Zeugin Erika B. hatte beobachtet, "… wie Kranke aus der Männerabteilung mehrmals täglich einen Sarg aus der Anstalt auf den Friedhof brachten, wo der Tote dann herausgenommen worden sei und der leere Sarg in die Anstalt zurückgebracht wurde…". (1)

Quelle

1. Daum, Monika (1996): Arbeit und Zwang, das Leben der Hadamarer Patienten im Schatten des Todes. in: Roer, Dorothee; Henkel, Dieter (Hg.): Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933-1945. Mabuse-Verlag, S. 173- 213, hier S. 199-202.

Fragen zu den Aussagen der Überlebenden:

Besprecht die Aussagen in Kleingruppen.

  1. Beschreibt die Arbeiten, die die Patientinnen und Patienten verrichten mussten. Wie war ihre Versorgung, was bekamen sie zu essen? Was mussten sie durch das Personal befürchten? Wie verhielt sich das Personal der Einrichtung insgesamt?
  2. Versucht die Gefühle, die der Text in euch auslöst, durch ein gemaltes Bild, einen Text, eine Skizze oder eine andere künstlerische Form darzustellen.