Hilde Wulff (1898-1972)

Hildegard Wulff wurde am 7. Januar 1898 als zweite von drei Töchtern einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie im Ruhrgebiet geboren. Im Alter von zwei Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung. Der Wohlstand ihrer fürsorglichen Eltern ermöglichte es, verschiedene medizinische Behandlungsmethoden zur Besserung ihres Gesundheitszustandes auszuprobieren. Das hatte jedoch zur Folge, dass Hilde weder in die Schule ging noch am alltäglichen familiären Leben teilnahm. Erst ab dem Alter von 15 Jahren erhielt die Jugendliche auf Anweisung eines Arztes regelmäßigen Schulunterricht durch einen Privatlehrer. Die mit ihrer Behinderung verbundenen Kindheitserfahrungen wurden zum Antrieb ihrer Berufsfindung.

Mit dem festen Ziel, eine Reihe sogenannter "Krüppelkinderheime" zu gründen und zu leiten, in denen medizinisch-orthopädische Behandlung und Schulunterricht möglich sein sollten, absolvierte Hilde Wulff trotz erheblicher Einschränkungen in ihrer Beweglichkeit und zunächst gegen den Widerstand ihres Vaters eine Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin und Jugendfürsorgerin. Zu Beginn ihrer Ausbildung durfte sie aufgrund ihrer körperlichen Verfassung nicht gehen und musste den Großteil des Tages liegen. „Ich nahm an den Vorlesungen liegend teil - dies aber gab mir keine Außenstellung, ja ich wurde, obwohl ich die Jüngste in dem Lehrgang war, zum Sprecher der Klasse."(1)

Von 1923 bis 1933 engagierte sich Hilde Wulff im "Selbsthilfebund der Körperbehinderten (Otto Perl-Bund)" und führte unentgeltlich Beratungen durch. Der Selbsthilfebund war 1919 in Berlin von Otto Perl, Marie Gruhl und anderen gegründet worden. Zu den Erfolgen des Bundes gehörte die Errichtung eigener Wirtschaftsbetriebe und damit die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen für Menschen mit Behinderungen. In der Auseinandersetzung mit den Trägern der sogenannten "Krüppelfürsorge", die die Leistungen für Menschen mit Körperbehinderungen verteilten, setzte sich der Selbsthilfebund engagiert für die gemeinsame Erziehung behinderter und - so der in dieser Zeit übliche Sprachgebrauch - "gesunder" Kinder ein. Die Sondererziehung körperbehinderter Kinder und Jugendlicher in "Krüppelanstalten" und den Anstalten angeschlossenen ambulanten "Krüppelschulen" und Berufsausbildungsstätten lehnte er ab. 1928, ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters, mit dem sie sich auch gemeinsam engagiert hatte, gründete Hilde Wulff mit ihrem ererbten Vermögen die "Krüppelhilfe und Wohlfahrt GmbH". Das war eine gemeinnützige Gesellschaft mit dem Ziel, "Krüppelheime, Tagesheime, Beschäftigungs- und Unterrichtsräume usw." zu errichten, die der kostenlosen Hilfe für Menschen mit körperlichen Behinderungen dienen sollten.

Sehr früh erkannte Hilde Wulff die Gefahren des Nationalsozialismus, besonders für Menschen mit Behinderungen. Nach 1933 wurde die 1921 von ihr mitgegründete "Kinderheil- und Heimstätte Urdenbach" von den Nationalsozialisten enteignet, der Verein aufgelöst. Mehrere Angestellte des Vereins mussten aus politischen Gründen oder weil sie Jüdinnen waren, aus Deutschland fliehen. Trotz dieser Ereignisse gründete Hilde Wulff weitere Kinderheime, die sie oft selbst leitete, und versuchte dabei "frei von allen nationalsozialistischen Einflüssen" zu bleiben. Hilde Wulffs Strategie war es, sich der öffentlichen Aufmerksamkeit durch die Nationalsozialisten so gut wie möglich zu entziehen. So verlegte sie zum Beispiel ein in Berlin gegründetes Heim in ein Dorf in die Nähe von Hamburg und finanzierte es fortan weitgehend aus ihrem Privatvermögen. Der Versuch, möglichst unauffällig zu agieren, hielt Hilde Wulff jedoch nicht davon ab, Verfolgte des Nazi-Regimes zu unterstützen. Der Musiker und Musikpädagoge Heinrich Jacoby, der als Jude in die Schweiz emigrieren musste, schrieb über sie: „Es ist mir noch recht viel von früher gegenwärtig - und nicht zuletzt ihre stille Courage in jenen Tagen, da die meisten bloß Angst hatten, jemandem zu helfen." Mit ihrem Leben, ihrer pädagogischen Arbeit und ihrem persönlichen Einsatz leistete Hilde Wulff einen stillen, aber mutigen und wirksamen Widerstand, der bis heute nicht gewürdigt wird. Sie und alle ihr anvertrauten Kinder überlebten die Zeit des Nationalsozialismus.

Nach 1945 waren Hilde Wulffs Kräfte fast erschöpft. Dennoch führte sie das Kinderheim "Im Erlenbusch" weiter, in den 60er-Jahren sogar noch vom Bett aus. Hilde Wulff starb 1972 in diesem Heim in Hamburg.

Quelle:
(1) Petra Fuchs: Hilde Wulff (1898-1972). Leben und Wirken für die Emanzipation körperbehinderter Menschen in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus. Abrufbar auf der Website "bidok"

(2) Jacoby 10.06.1953 auf der Website bidok: Petra Fuchs, siehe (1)