Behinderung als Menschenrechtsthema

Ein weiblicher Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention

von Sigrid Arnade

Frauen mit Behinderungen sind nicht nur gegenüber Frauen ohne Behinderungen benachteiligt, sondern auch gegenüber Männern mit Behinderungen. Das wusste ich lange bevor ich erstmals von der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) hörte. Behinderte Frauen bilden das Schlusslicht auf dem Arbeitsmarkt und haben demzufolge häufig nur ein sehr geringes Einkommen. Wenn sie Kinder bekommen, erhalten sie nicht die notwendigen Unterstützungen wie Zuschüsse zum Auto oder Wohnungsanpassungen, die für Erwerbstätige mit Behinderungen selbstverständlich sind. Außerdem sind Mädchen und Frauen etwa doppelt so  häufig von sexueller Gewalt betroffen wie ihre nicht behinderten Schwestern.

Diese Fakten waren mir als Mitglied im Deutschen Behindertenrat (DBR) also bewusst, als ich im Frühjahr 2004 den ersten Entwurf zur BRK las. Als MS-Betroffene wusste ich außerdem, dass die Menschen mit MS mehrheitlich weiblich sind. Umso empörter war ich, als ich feststellen musste, dass Frauen in diesem Entwurf fast vollständig fehlten. Mehrere Versuche, diese fehlende Perspektive zu ergänzen, schlugen fehl.

Deshalb begründete ich gemeinsam mit Sabine Häfner, Juristin und seinerzeit Frauenreferentin beim Sozialverband Deutschland – SoVD e.V., die Kampagne „Behinderte Frauen in der UN-Konvention sichtbar machen!“. Wir arbeiteten mit einer drei-sprachigen Hompage (deutsch/englisch/spanisch), sammelten Unterschriften für unser Anliegen und erarbeiteten Ergänzungsvorschläge zur Konvention. Ideell und finanziell wurden wir dabei vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) unterstützt.

Nichts über uns ohne uns!

Als Vertreterinnen des Deutschen Behindertenrats fuhren wir dann auch nach New York zu den Verhandlungen zur BRK, Sabine Häfner zweimal, ich dreimal. Die Konvention wurde von einem sogenannten Ad-Hoc-Ausschuss verhandelt, der sich zweimal jährlich jeweils für zwei bis drei Wochen in New York traf. Insgesamt fanden acht Verhandlungsrunden statt.

Die gesamten Verhandlungen standen unter dem Motto „Nichts über uns ohne uns!“. Niemals zuvor wurde die Zivilgesellschaft bei den Verhandlungen zu einem Menschenrechtsübereinkommen so intensiv beteiligt. In jeder Verhandlungsrunde waren neben den Regierungsvertretungen auch etwa 400 Menschen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) anwesend. Dabei handelte es sich um Frauen und Männer mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen oder aber um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Behindertenorganisationen.

Jeder Artikel der Konvention wurde einzeln diskutiert. Zunächst hatten die Regie-rungsdelegationen die Gelegenheit, sich zu Wort zu melden und ihre Vorschläge einzubringen. Abschließend wurde den NGOs ein Rederecht eingeräumt. Dabei übermittelte der Vorsitzende des Ausschusses, der Neuseeländer Don MacKay, eine eindeutige Botschaft an die NGOs: „Wir werden eure Vorschläge ernst nehmen, aber ihr müsst mit einer Stimme sprechen.“

Das war für uns als NGO-Vertretungen eine große Herausforderung, denn über alle sozialen, kulturellen, sprachlichen und sonstige Differenzen hinweg mussten wir uns auf eine Linie einigen. Das erforderte viel Kraft und Diskussionen, es ist aber letztlich immer gelungen. Wenn wir uns schließlich untereinander geeinigt hatten, fiel es vergleichsweise leicht, auch noch die Regierungsdelegationen zu überzeugen.

Der "twin-track-approach" und sein Siegeszug

Zur Verankerung der Rechte behinderter Frauen in der BRK gab es zwei grundsätzlich unterschiedliche Positionen:

  • Frauenartikel: Die Regierungsdelegation von Südkorea brachte den Vorschlag ein, einen eigenen Frauenartikel in der Konvention zu verankern. Darin sollten alle speziellen Benachteiligungen von behinderten Frauen aufgelistet werden. Die Staaten sollen sich dazu verpflichten, Maßnahmen gegen diese Benachteiligungen zu ergreifen. Diese Position wurde vor allem von den NGO-Vertreterinnen aus Asien und Afrika unterstützt.
  • Gender Mainstreaming: Dagegen favorisierten die Frauen aus Europa und anderen westlichen Staaten die Strategie des Gender Mainstreaming. Das bedeutet, dass in allen relevanten Artikeln die Situation von Frauen mit Behinderungen angesprochen werden sollte.


In dieser Situation lautete die Kompromissformel „twin-track-approach“, zu deutsch: zweigleisiges Vorgehen. Diese Strategie des „sowohl - als auch“ sollte die Konfrontation des „entweder - oder“ überwinden. Sabine Häfner und ich hatten diese Vorgehen bereits in einem unserer ersten Papiere im Frühjahr 2005 empfohlen. Im Laufe der Diskussionen konnten wir immer mehr Beteiligte vom „twin-track-approach“ überzeugen. So ist es letztlich gelungen, dass die Staaten in einem eigenen Frauenartikel (Artikel 6) die mehrfache Benachteiligung von behinderten Frauen anerkennen und sich zu entsprechenden Gegenmaßnahmen verpflichten. In Artikel 6 wird außerdem das „Empowerment“ von Frauen mit Behinderungen thematisiert. „Empowerment“ gehört sicherlich zu den Schlüsselbegriffen der Konvention. In weiteren Artikeln der Konvention, wie in den Artikeln zum Thema Gewalt oder Gesundheit, wird durch Frauen- oder Genderreferenzen die Situation von Frauen mit Behinderungen angesprochen.

Zur generellen Bedeutung der BRK

Die Tage in New York habe ich als sehr anstrengend und nervenaufreibend erlebt. Ich war immer froh, wenn ich wieder zu Hause war. Mit etwas Abstand habe ich dann aber auch Stolz empfunden, was durch das Zusammenwirken von ganz vielen engagierten Menschen aus den verschiedenen Staaten dieser Erde entstanden ist: Der starke Einfluss der Expertinnen und Experten in eigener Sache auf den Konventionstext ist unverkennbar, denn mit der BRK ist es gelungen, das erste internationale Dokument zu formulieren, das Behindertenpolitik konsequent aus einer Menschenrechtsperspektive betrachtet. In den meisten Staaten herrscht traditionell das medizinische Modell von Behinderung vor, demzufolge Behinderung unter einem medizinischen Blickwinkel als individuelles Defizit betrachtet wird. Im Gegensatz dazu entsteht Behinderung in der menschenrechtsorientierten Sichtweise „aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ (BRK Präambel, e). Nach diesem Verständnis geht es nicht mehr um Fürsorge oder Rehabilitation behinderter Menschen, sondern um ihre gleichberechtigte, selbstbestimmte Teilhabe.

Mit der BRK konnte dieser Perspektivenwechsel realisiert werden: Menschen mit Behinderungen werden nicht länger als Patientinnen und Patienten betrachtet, sondern als Bürgerinnen und Bürger. Sie gelten nicht länger als Problemfälle, sondern werden auf allen Ebenen als Trägerinnen und Träger unveräußerlicher Menschenrechte begriffen. So wird behindertes Leben als normaler Bestandteil menschlichen Lebens und der menschlichen Gesellschaft bejaht. Die Rede ist von dem „wertvollen Beitrag“, den Menschen mit Behinderungen zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten können (BRK Präambel, m). Gleichzeitig werden die Problemlagen behinderter Menschen nicht geleugnet, sondern benannt. Alle bestehenden Menschenrechte sind hinsichtlich der Lebenssituationen behinderter Frauen und Männer konkretisiert und auf diese zugeschnitten worden. So sind mit der BRK zwar keine neuen Rechte für Menschen mit Behinderungen geschaffen worden. Durch die BRK wird jedoch hervorgehoben, dass alle Menschenrechte für behinderte Menschen genauso gültig sind wie für alle anderen Menschen.

Für viele Menschen mit MS ist neben den aufgelisteten Aspekten auch der Artikel 25 zum Thema Gesundheit von Bedeutung. Darin erkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an. Außerdem verpflichten sich die Staaten, behinderten Menschen gleichberechtigt mit anderen die Gesundheitsleistungen anzubieten, die speziell wegen der Behinderung benötigt werden, sowie solche, die weitere Behinderungen möglichst gering halten oder vermeiden helfen. Von diesen Vorgaben ist das deutsche Gesundheitswesen mit Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen noch ein Stück entfernt. 

Resümee

Die BRK stärkt die Position von Menschen mit Behinderungen. Sie müssen nicht länger als BittstellerInnen auftreten, die dankbar zu sein haben. Behinderte Menschen haben das Recht, gleichberechtigt mit anderen in allen Bereichen am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben. Und sie haben das Recht, die dafür notwendige Unterstützung zu erhalten. Wenn ihnen dieses Recht vorenthalten wird, werden ihre Menschenrechte verletzt.

Die Situation von Frauen wurde bislang in keiner UN-Konvention (außer der Frauenrechtskonvention) so umfassend berücksichtigt wie in der BRK. In dem Frauenartikel haben sich die Staaten auch dazu verpflichtet, bei allen Planungen und Maßnahmen zur Umsetzung der BRK die Lebenswirklichkeit behinderter Frauen zu beachten. Das ist ein toller Erfolg für Frauen mit Behinderungen. Im Nachhinein bin ich froh und dankbar, dabei gewesen zu sein und meinen Teil zu diesem Ergebnis beigetragen zu haben!