Das Portfolio bzw. das ICH-Buch des Kindes, eine stärkenorientierte Entwicklungsdokumentation
von Britta Dehn
Waren Sie auch im Kindergarten und haben am Ende Ihrer Kindergartenzeit eine Sammelmappe mit Ihren „Kunstwerken“ als Erinnerung mit nach Hause bekommen? Können Sie sich noch daran erinnern, wie diese Bilder entstanden sind oder haben Sie sonst noch Erinnerungen an diese prägende Zeit? Heutzutage wandeln sich die Sammelmappen von damals immer mehr zu Portfolios, die vom Kind über seine eigene Entwicklung geführt werden.
Woher kommt der Begriff „Portfolio“ und wo findet er Anwendung?
Das Wort Portfolio kommt aus dem Lateinischen und setzt sich aus den Begriffen portare = tragen und folium = Blatt zusammen. Das Portfolio findet überall dort Anwendung, wo Menschen etwas zu einem bestimmten Thema sammeln und in einem Buch, einem Ordner oder einer Mappe bündeln. Bekannt ist das Portfolio unter anderem bei Banken und Börsen, bei Künstlerinnen und Künstlern, im Management und im pädagogischen Bereich.
Das Portfolio im pädagogischen Bereich
Im pädagogischen Bereich wird häufig vom „Buch des Kindes“, dem „ICH-Buch“ oder dem „Ordner des Kindes“ gesprochen. Gerade der Begriff ICH-Buch stärkt das Selbstverständnis des Kindes und macht deutlich, über wen das Portfolio geführt wird. Im fachlichen Austausch und in der Elternarbeit empfiehlt es sich, den Bezug zu dem Begriff Portfolio herzustellen, um es deutlich von der „guten alten“ Sammelmappe zu unterscheiden.
Das Portfolio findet Anwendung in Kindertageseinrichtungen und Schulen und zeigt durch verschiedene Dokumente die Entwicklung eines Kindes auf.
Welche Dokumente kommen in das Portfolio?
Im Portfolio wird im Prinzip all das zusammen getragen, was die Entwicklung und die Lebenswelt des Kindes veranschaulicht. Dies können sein:
- Fotos vom Kind in unterschiedlichen Situationen,
- Kommentare des Kindes zu den Fotos,
- Selbstporträts,
- Kunstwerke des Kindes,
- Seiten über MICH („Das bin ICH“; „So gefällt es mir im Kindergarten“; „So verkleide ich mich bei Fasching“; „Das hat mir in den Ferien gefallen“),
- Seiten über Projekte der Einrichtung,
- Seiten, die von der Familie des Kindes gestaltet werden,
- Briefe an das Kind - geschrieben von den Eltern zu Beginn der Kindergartenzeit oder zwischendurch, geschrieben von den pädagogischen Fachkräften bei Übergängen (Wechsel in eine andere Gruppe, Abschied von der Einrichtung) oder bei schönen Begebenheiten,
- Kinderinterviews,
- gesammelte Objekte wie Eintrittskarten, Postkarten, Prospekte, Mitbringsel aus dem Urlaub etc.,
- Lerngeschichten.
Durch Fotos werden Portfolios anschaulich!
Vergessen geht automatisch, für das Erinnern braucht der Mensch Anlässe. Daher sind Fotos für das Portfolio unerlässlich. Fotos bringen Kinder ab ca. einem Jahr dazu, sich selbst wiederzuerkennen und vertraute Personen und Gegenstände zu entdecken. Mit ca. zwei Jahren können Kinder Anlässe auf den Fotos erkennen und erinnern sich an Begebenheiten, zum Beispiel Geburtstage, Ausflüge, Urlaube. Fotos eignen sich in besonderer Weise, um sich über gemeinsam Erlebtes auszutauschen oder eine Geschichte zu erzählen. Fotos verbinden Menschen.
Wer führt das Portfolio?
Das Kind ist die Autorin bzw. der Autor seines Portfolios – pädagogische Fachkräfte, Familienangehörige sowie Freundinnen und Freunde sind die Co-Autorinnen bzw. -Autoren. Die Co-Autorinnen bzw. -Autoren machen Fotos, schreiben Briefe an das Kind, unterstützen es beim Sammeln von Dokumenten, halten Aussagen des Kindes zu den Fotos fest oder schreiben Lerngeschichten.
Vor allem treten sie in den Dialog mit dem Autorinnen– bzw. Autoren-Kind. Sie besprechen mit dem Kind: Was soll in das Portfolio aufgenommen werden? Warum wird das ausgewählt und was ist am dem ausgewählten Dokument wichtig?
Die Autorinnen und Autoren benötigen von ihren Co-Autorinnen und -Autoren unterschiedlich viel Unterstützung. Diese ist abhängig vom Alter und der Entwicklung des Kindes. Natürlich kann ein Baby oder Kleinkind noch nicht selbst Fotos machen oder Lieblingssachen sammeln oder etwas aufschreiben. Jüngere Kinder sind darauf angewiesen, dass andere ihre Entwicklungsschritte wahrnehmen und in Text und Bild festhalten. Ein Schulkind hingegen kann fotografieren, Dinge sammeln und Texte schreiben. Es kann wesentlich eigenständiger an seinem Portfolio arbeiten und benötigt die Unterstützung seiner Co-Autorinnen und -Autoren nur gelegentlich.
In trauter Zweisamkeit
Für die Arbeit mit dem Portfolio braucht es die richtige Umgebung – vor allem eine ruhige. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem vollen Bus und versuchen Ihrem Gegenüber eine tolle Geschichte zu erzählen. Ständig werden Sie durch ein- und aussteigende Personen gestört und am Ende der Geschichte fragt Ihr Gegenüber: „Was hast Du gesagt?“ Wie frustrierend. Genauso geht es Kindern, wenn ihr Portfolio so nebenbei im Gruppenalltag der Kindertageseinrichtung oder Schule geführt wird. Kinder merken sofort, wenn Erwachsene abgelenkt sind und ihre Aufmerksamkeit überall ist, bloß nicht bei ihnen. Oft fühlen Kinder sich dadurch gekränkt und der Lern-Misserfolg ist: „Ich bin unwichtig.“ Die Auswahl der Dokumente für das Portfolio und das Gespräch darüber sollten daher in ruhiger Umgebung zu zweit stattfinden. Es ist durchaus nicht immer ganz leicht, dies in der Realität umzusetzen, aber sehr lohnenswert.
Portfolio und die Zeit
Ein Portfolio entsteht nicht mal eben so an einem Tag, sondern es wird in einem ständigen Prozess geführt. Da es eine Entwicklungsdokumentation ist, sollte das Portfolio auch parallel zu der Entwicklung des Kindes entstehen. Einen festen Tag in der Woche für die Arbeit mit dem Portfolio einzuplanen, hat sich sehr bewährt. So können die gesammelten Papiere zeitnah in das Portfolio einsortiert werden und das Kind hat den aktuellen Bezug zu den Fotos, seinen Kunstwerken und anderen Portfolio-Dokumenten. [Fotos vom Portfoliotag KEFI]
Das Portfolio ist eine sehr geeignete Grundlage für Gespräche, die pädagogische Fachkräfte und Eltern über die Entwicklung des Kindes führen. Das Kind wird an diesen Gesprächen beteiligt, indem es sein Portfolio den anwesenden Erwachsenen präsentiert und anhand seines Portfolios über seine Entwicklung berichtet.
Das Portfolio gehört dem Kind!
Von Anfang an gehört das Portfolio dem Kind, egal wie viele andere daran mitarbeiten. Durch diese Einstellung ist es selbstverständlich, dass das Kind aktiv an der Gestaltung seines Portfolios beteiligt wird und jederzeit selbstständig das Buch holen, anschauen und gestalten kann. Hierdurch entwickelt das Kind das Bewusstsein, wertgeschätzt und geachtet zu werden. Andere müssen das Kind als Besitzerin oder Besitzer des Portfolios natürlich vorher fragen, ob sie das Buch anschauen dürfen. Und die Entscheidung des Kindes ist zu respektieren.
Weitere schöne Ideen
Neben dem Portfolio gibt es weitere wunderbare Ideen, die auf einfühlsame Weise die pädagogische Arbeit mit dem Kind bereichern. Einige davon sind:
- Die Seite über UNS – neue Familien in der Einrichtung stellen sich vor,
- die Familienmappen,
- "Okeydokeys",
- die "Eine Seite über mich",
- Berichte, Fotos von einer Persönlichen Zukunftsplanung.
Wurzeln & Flügel
Sind die Kinder klein, müssen wir ihnen helfen, Wurzeln zu fassen.
Sind sie aber groß geworden, müssen wir ihnen Flügel schenken.Indisches Sprichwort
Dieses indische Sprichwort trifft sehr gut auf das Portfolio des Kindes zu. Das Portfolio macht die Stärken und die Lernkompetenzen des Kindes sichtbar. Das Kind erfährt durch den intensiven Kontakt zu seinen Co-Autorinnen und -Autoren Aufmerksamkeit und Zuwendung. Dadurch kann es starke „Wurzeln“ bilden, die tragfähige Beziehungen und Kompetenzen ermöglichen. Zusätzlich helfen die Erfahrungen mit dem Portfolio dem Kind, sich den Anforderungen der großen weiten Welt zu stellen.
Weitere Literatur zum Thema
Berger, Lasse und Marianne (Hrsg. und Übersetzer der deutschen Ausgabe). Portfolio in Vorschule und Schule. Bremen; 2007. Bestellbar unter der E-Mail-Adresse: [email protected]
Bostelmann, Antje (Hrsg.): Das Portfolio-Konzept für Kita und Kindergarten. Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr; 2007
Bostelmann, Antje (Hrsg.): Das Portfolio-Konzept für die Krippe. Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr; 2008
Fthenakis, Wassilios E. (Hrsg.): Portfolios im Elementarbereich. Natur-Wissen schaffen. Troisdorf: Bildungsverlag EINS; 2009
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.): Bildung sichtbar machen. Von der Dokumentation zum Bildungsbuch. Weimar/Berlin: verlag das netz; 2004
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.): Das Bildungsbuch im Dialog. Weimar/Berlin: verlag das netz; 2004
Groot-Wilken: Portfolioarbeit leicht gemacht. Leitfaden zur systematischen Dokumentation von Bildungsverläufen in Tageseinrichtungen. Berlin: Cornelsen Verlag Sciptor; 2008
Jacobs, Dorothee: Kreative Dokumentation. Dokumentationsmodelle für Kindertageseinrichtungen. Berlin: Cornelsen Verlag Sciptor; 2007
Kazemi-Veisari, Erika: Kinder verstehen lernen. Wie Beobachten zur Achtung führt. Seelze: Kallmeyer Verlag; 2004
Krok, Göran und Lindewald, Maria: Portfolios im Kindergarten. Das schwedische Modell. Lernschritte dokumentieren, reflektieren, präsentieren. Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr; deutsche Ausgabe 2007
Der PARITÄTISCHE Gesamtverband (Hrsg.): Beobachtung und Dokumentation. Arbeitshilfe für Kitas im Paritätischen. Berlin; 2008. Erhältlich auf der Website „Der Paritätische Gesamtverband“ ( www.der-paritaetische.de)
Ministerium für Bildung, Familie. Frauen und Kultur des Saarlandes (Hrsg.): Das Portfolio im Kindergarten. Ein Entwicklungstagebuch, geführt vom Kind und seinen Bildungsbegleitern. Autorin u. a. Donata Elschenbroich. Mit DVD. Weimar/Berlin: verlag das netz; 2008
Die Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales(Hrsg.): Bremer Individuelle Lern- und Entwicklungsdokumentation (PDF, 7,2 MB, nicht barrierefrei) Freie Hansestadt Bremen; 2. Auflage 2010.