Inklusion als Menschenrecht – Zukunftsplanung als Weg
von Stefan Doose
Was bedeutet Inklusion?
Der im deutschsprachigen Raum relativ junge Begriff Inklusion bedeutet, dass alle Menschen überall dabei sein dürfen und teilhaben können. Niemand wird ausgegrenzt, weil er oder sie anders ist, zum Beispiel eine Behinderung, einen anderen Glauben oder eine andere Muttersprache hat. Im Gegenteil: Vielfalt ist willkommen und wird wertgeschätzt.
Für Kinder mit Behinderungen bedeutet dies, in den regulären Kindergarten und die Schule vor Ort gehen zu können, mit anderen Kindern in der Freizeit zu spielen, ins öffentliche Schwimmbad gehen zu können oder im Sportverein mitzumachen. Damit dies möglich ist, müssen Barrieren abgebaut werden und muss individuelle Unterstützung zur Verfügung stehen. Dies ist in Deutschland bislang leider noch nicht überall der Fall.
Dem Konzept der Inklusion ging das der Integration voraus. Personen mit hohem Unterstützungsbedarf sollten in die Gesellschaft eingegliedert werden, indem sie in Sondereinrichtungen ausgegliedert und spezielle Maßnahmen ergriffen wurden. So steht ein ausdifferenziertes System von Sonderkindergärten, Sonderschulen, Werkstätten, Wohnheimen und Freizeitclubs für Menschen mit Behinderungen bereit, die die Integration ermöglichen sollen. In der Regel zieht die erste Ausgliederung in eine Sondereinrichtung die nächste Sonderbehandlung nach sich - erst im Kindergarten, dann in der Schule, dann im Arbeits-, Freizeit- und Wohnbereich.
Inklusion ist weitreichender als Integration. Es geht dabei nicht nur um die (Wieder-) Eingliederung von Menschen mit Behinderungen, mit Migrationshintergrund oder zum Beispiel mit einer anderen Religion. Es geht darum, dass alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gleichberechtigt teilhaben können und dass Menschen nicht ausgegrenzt werden, weil sie anders sind oder es als zu schwierig erscheint, sie gut zu unterstützen. Damit Inklusion möglich wird, müssen sich die Kultur und die Praxis in vielen unserer regulären Einrichtungen und Organisationen noch ändern. Zum Beispiel müssen Gebäude dafür rollstuhlgerecht sein.
Es gibt mit dem Index für Inklusion sowohl für Kindertageseinrichtungen als auch für Schulen eine Anregung, wie so ein Prozess gestaltet werden kann.
Die Kenntnis der Menschenrechte und der einschlägigen Gesetze kann dabei helfen, Inklusion einzufordern oder sogar einzuklagen.
Persönliche Zukunftsplanung kann dabei helfen, die Teilhabe eines Kindes in wichtigen Lebensbereichen zu organisieren und zu verwirklichen.
Alle Menschen haben Menschenrechte
Alle Menschen haben die gleichen Menschenrechte. In der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in 30 Artikeln erstmals universell zahlreiche Menschenrechte mit einer unverbindlichen Resolution anerkannt. So das Recht jedes Menschen auf Leben, Freiheit und Sicherheit seiner Person, das Recht auf Bildung, Arbeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. In den folgenden Jahrzehnten haben die Vereinten Nationen Menschenrechte in verschiedenen sogenannten Konventionen (Übereinkommen, Pakten) weiterentwickelt. Ganz wesentlich waren dabei der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. In den folgenden Jahren wurden diese Rechte für bestimmte Zielgruppen weiter konkretisiert, so gibt es beispielsweise die UN-Kinderrechtskonvention oder das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die Übereinkommen werden jeweils nach der Ratifikation durch einen Staat für diesen verbindlich.
Das Benachteiligungsverbot im Grundgesetz
Menschenrechte finden sich auch in Verfassungen wieder, zum Beispiel in Artikel 3 unseres Grundgesetzes.
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner „Rasse“, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Artikel 3, Absatz 3, Grundgesetz)
Wussten Sie übrigens, dass das Benachteiligungsverbot von Menschen mit Behinderungen erst am 15. November 1994 mit der neuen Verfassung für das geeinte Deutschland in Kraft trat? Es kennzeichnet für Deutschland den Beginn einer neuen Sichtweise: Behinderung wird nicht mehr hauptsächlich als ein medizinisches Problem der betroffenen Person gesehen, die behandelt werden muss und unserer Fürsorge bedarf. Der gesellschaftliche Umgang mit Behinderung wird nun als eine Bürgerrechtsfrage begriffen. So ist die Ursache dafür, dass ein Kind im Rollstuhl nicht in den örtlichen Kindergarten rollen oder mit dem Schulbus fahren kann, nicht die Beeinträchtigung des Kindes, nicht laufen zu können, sondern die Tatsache, dass öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten und Schulen oder Busse nicht für alle Bürgerinnen und Bürger zugänglich sind.
Gesetze für Chancengleichheit
In den letzten Jahren wurden in Deutschland einige neue Gesetze verabschiedet, die Menschen mit Behinderungen vor Benachteiligungen schützen sollen:
Seit dem Jahr 2002 gibt es auf Bundesebene das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz, BGG) und in Folge Landesgleichstellungsgesetze. Die Gleichstellungsgesetze konkretisieren das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes auf Bundes- bzw. Landesebene. Sie sind bindend für die öffentliche Verwaltung und definieren zum Beispiel „Behinderung“ und „Barrierefreiheit“. Im Behindertengleichstellungsgesetz wurde zudem Gebärdensprache als offizielle Verkehrssprache anerkannt.
Auch das 2001 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen setzt einen klaren Schwerpunkt auf Selbstbestimmung und Teilhabe. Darin sind beispielsweise das Wunsch- und Wahlrecht bezüglich der Art der Erbringung von Leistungen oder das Recht auf ein Persönliches Budget vorgesehen.
Im August 2006 trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft, das nun auch im Bereich des Zivil- und Arbeitsrechts verbietet, Menschen aufgrund des Geschlechts, der „Rasse“, der ethnischen Herkunft, der sexuellen Orientierung oder einer Behinderung zu benachteiligen. Dies ist beispielsweise bedeutend beim Abschluss von Verträgen, wie Mietverträgen oder Versicherungen, sowie bei Einstellungen.
Kinder haben Kinderrechte
Die eigenständigen Rechte von Kindern sind weltweit immer wieder in Gefahr. Deshalb gibt es seit dem 20. November 1989 das „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ (UN-Kinderrechtskonvention), das in Deutschland am 5. April 1992 in Kraft getreten ist. Kinderrechte sind Menschenrechte, die auf die besondere Situation von Kindern hin ausformuliert wurden.
Kinder haben nach der UN-Kinderrechtskonvention unter anderem das Recht auf Schutz vor Diskriminierung (Art. 2), das Recht auf Wohlergehen (Art. 3), Leben und Entwicklung (Art. 6), Achtung ihrer Meinung (Art. 12), Privatsphäre und Schutz der Ehre und des Rufes (Art. 16), Schutz vor jeder Form von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung (Art. 19), Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft trotz Behinderung (Art. 23), Bildung (Art. 28) und Freizeit, Spiel und Kultur (Art. 31).
Auf der Website des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finden Sie die Publikation „Die Rechte der Kinder von logo! einfach erklärt“, sie beinhaltet die UN-Kinderrechtskonvention in einfache Sprache übersetzt.
Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Am 13. Dezember 2006 wurde nach langjähriger Vorarbeit das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) in der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Das Übereinkommen konkretisiert die Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen und vor dem Hintergrund ihrer besonderen Lebenslagen. Es ist für Deutschland seit dem 26. März 2009 rechtlich verbindlich.
Die UN-Konvention enthält viele fortschrittliche Regelungen und Rechte für Menschen mit Behinderungen. Von besonderer Bedeutung sind zum Beispiel Artikel 24, der das Recht auf inklusive Bildung auf allen Ebenen beinhaltet - von der Krippe über die Schule bis zur Volkshochschule -, oder Artikel 19, der das Recht auf verschiedene gemeindenahe Dienstleistungen einschließlich persönlicher Assistenz enthält. Menschen mit Behinderungen dürfen selbst entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen und sind nicht verpflichtet, in besonderen Wohnformen zu leben. Die UN-Konvention beinhaltet aber auch den Arbeitsauftrag an den Gesetzgeber, an Gemeinden und Einrichtungen, dafür zu sorgen, dass zukünftig Menschen mit Behinderungen inklusiv am Leben in der Gemeinschaft teilhaben können, ohne Barrieren.
Was haben Inklusion und Menschenrechte mit Persönlicher Zukunftsplanung zu tun?
Persönliche Zukunftsplanung ist ein wertegeleiteter Ansatz. Es geht darum, Inklusion und die Menschenrechte konkret mit einzelnen Menschen umzusetzen. Mehr über Persönliche Zukunftsplanung erfahren Sie unter "Personenzentriertes Denken und Persönliche Zukunftsplanung - Grundlagen und Grundgedanken".
Eine gesellschaftliche Veränderung hin zur Inklusion kann nur gelingen, wenn viele Menschen vor Ort beginnen, eine neue Praxis zu leben. Persönliche Zukunftsplanung kann eine Möglichkeit sein, für ein Kind eine gute Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Ein Zitat der US-amerikanischen Menschenrechtsaktivistin Eleanor Roosevelt beschreibt diesen Zusammenhang sehr eindrücklich:
"Und letztendlich kommt es doch immer auf dasselbe an, wenn wir über Menschenrechte sprechen. Es geht um die Plätze nah am Haus. So nah und so klein, dass sie auf keiner Weltkarte wiederzufinden sind. Doch ist genau dies die Welt eines jeden Individuums; die Nachbarschaft, in der wir wohnen; die Schule, in die wir gehen; die Fabrik, der Bauernhof oder das Büro, wo wir arbeiten. Das ist der Ort, wo jeder Mann, jede Frau oder jedes Kind die gleichen Rechte sucht, gleiche Chancen, Gleichbehandlung ohne Diskriminierung. Wenn diese Rechte dort nichts bedeuten, dann bedeuten sie auch anderswo nichts. Ohne gezieltes Handeln von jedem, der sich dem verbunden fühlt, dies im Nahbereich zu verwirklichen, hat es wenig Sinn, nach einem derartigen Fortschritt für den Rest der Welt zu streben."
Eleanor Roosevelt (zitiert nach Doose 2011, 12)
Vertiefende Literatur zum Thema Inklusion als Menschenrecht:
Timm Albers (2011): Mittendrin statt nur dabei. Inklusion in Kindergarten und Krippe. München: Ernst Reinhardt Verlag.
Heiner Bielefeldt (2009): Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention (PDF, 131 KB, nicht barrierefrei) Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2008): Die Rechte der Kinder von logo! einfach erklärt. 8. geänderte Auflage Berlin.
Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (2011): alle inklusive! Die neue UN-Konvention. Übereinkommen der Rechte von Menschen mit Behinderungen (PDF, 11 MB, nicht barrierefrei) In Deutsch, Deutsch – Schattenübersetzung, Englisch und Leichter Sprache. Berlin.
Tony Booth, Mel Ainscow & Denise Kingston (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln (PDF, 733 KB, nicht barrierefrei) Halle: Martin-Luther-Universität.
Tony Booth, Mel Ainscow & Denise Kingston (2006): Index für Inklusion (Tageseinrichtungen für Kinder). Lernen, Partizipation und Spiel in einer inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln (PDF, 543 KB, nicht barrierefrei) Frankfurt: GEW.
Tony Booth (2011): Wie sollen wir zusammen leben? Inklusion als wertebezogener Rahmen für die pädagogische Praxis. Frankfurt: GEW.
Stefan Doose (2011): „I want my dream!“ Persönliche Zukunftsplanung. Neue Perspektiven und Methoden einer personenzentrierten Planung mit Menschen mit Behinderungen. Broschüre mit Materialienteil. 9. überarbeitete Auflage Kassel: Mensch zuerst. Der einführende Textteil (80 S.) ist verfügbar auf der Website „Persönliche Zukunftsplanung“ (PDF, 97 KB).
Hendrik Cremer (2010): Recht auf Bildung für alle Kinder (PDF, 793 KB) In Leichter Sprache. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
Jo Jerg, Werner Schumann, Stephan Thalheim (2011): Vielfalt entdecken. Erfahrungen mit dem Index für Inklusion in Kindertagesstätte und Gemeinde. Reutlingen: Diakonie-Verlag.
Max Kreutzer, Borgunn Ytterhus (Hrsg.) (2011): „Dabeisein ist nicht alles“ – Inklusion und Zusammenleben im Kindergarten. München: Ernst Reinhardt Verlag.