1994 bis 2011

Veränderungen und Stillstand

Seit der Änderung des Grundgesetzes 1994 (Artikel 3) wurden unzählige kleinere Gesetzesänderungen beschlossen, beispielsweise im Baurecht, in den Landesverfassungen, im Schwerbehindertengesetz und bezüglich der Rente. Bis zur Jahrtausendwende änderten sich die Ansichten vieler nicht behinderter Menschen über Menschen mit Behinderungen jedoch nur wenig. Menschen mit und Menschen ohne Behinderung begegneten sich nach wie vor selten. Um staatliche Leistungen zu bekommen, mussten Menschen nach wie vor ihre Hilfsbedürftigkeit und ihre Einschränkungen nachweisen, statt auf ihre Fähigkeiten, Bedürfnisse und Möglichkeiten hinweisen zu können. Das Sonderschulsystem wurde etwas modernisiert und in ein Schulsystem mit Förderzentren umstrukturiert. Wechsel zwischen Regelschulen und Förderzentren waren nun leichter möglich. Teilweise wurden Kinder mit und Kinder ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet oder konnten gemeinsam den Kindergarten besuchen. Die Möglichkeiten der Kinder mit Behinderungen hingen aber noch immer stark vom Engagement und den finanziellen Mitteln ihrer Eltern ab.

Selbstbestimmt leben ist möglich

Die politischen und sozialen Zusammenschlüsse und Aktionen von Menschen mit Behinderungen wurden zunehmend professioneller und weiteten sich aus. Unter dem Motto "Ich weiß doch selbst, was ich will" begannen sich Menschen mit Lernschwierigkeiten zu organisieren und als Netzwerk "Mensch zuerst" für ein selbstbestimmtes Leben einzutreten. In den 90er-Jahren gründeten sich "Bifos, das Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter", die "Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. - ISL" und viele andere Vereine, die es heute noch gibt. Viele dieser Initiativen waren durch US-amerikanische Behindertenrechtler und –rechtlerinnen, die sich dort als Teil der Bürgerrechtsbewegung verstanden, motiviert und wurden von ihnen unterstützt. In den USA zeigten Behindertenrechtler und -rechtlerinnen beispielsweise, dass ein unabhängiges Leben möglich ist. Ihr Vorbild machte deutlich: Viele Schwierigkeiten, mit denen sich behinderte Menschen konfrontiert sahen, waren weniger auf ihre individuellen Einschränkungen zurückzuführen, sondern vor allem das Resultat gesellschaftlicher Barrieren und Ausgrenzungen. Diese wollten sie nicht länger akzeptieren und hinnehmen. Immer mehr Menschen bezeichneten diese Einschränkungen und Ausgrenzungen als Verletzung ihrer Menschenrechte.

Auch das Recht ändert sich

Um die Jahrtausendwende begannen sich allmählich weltweit gesellschaftliche Veränderungen für Menschen mit Behinderungen bemerkbar zu machen. Diese Veränderungen in der Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen und in der Rechtswirklichkeit sind ohne die Behindertenrechtsbewegung und andere soziale Bewegungen undenkbar. 2002 trat in Deutschland auf Bundesebene das Bundesgleichstellungsgesetz in Kraft. Waren über viele Jahrhunderte hinweg behinderte Menschen – auch in Gesetzestexten – eher als "soziale Probleme" statt als gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen behandelt worden, so schlug dieses Gesetz eine neue Richtung ein: "Ziel dieses Gesetzes ist es, die Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen und zu verhindern sowie die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen" (BGG, Abschnitt 1, Allgemeine Bestimmungen).

Diese Entwicklung findet sich auch in einer Neugestaltung des Rehabilitationsrechts wieder. Bisher war das Rehabilitationsrecht dafür da gewesen, Menschen bei der Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit zu unterstützen. Hierfür müssen sie bis heute sehr detailliert und bei verschiedenen Stellen nachweisen, wofür und warum sie welche Leistungen brauchen. Dies ist sehr aufwändig, manchmal demütigend und häufig unüberschaubar, was dazu führt, dass nicht immer alle Menschen die Leistungen bekommen, die ihnen zustehen. Seit 2008 gibt es deshalb auch die Möglichkeit, ein sogenanntes "Persönliches Budget" zu bekommen. Der Gang zu mehreren Ämtern entfällt dadurch. Über die Verwendung des Budgets kann jeder und jede selbst bestimmen und die Unterstützung davon bezahlen, die tatsächlich aus seiner oder ihrer Sicht benötigt wird. Allerdings ist es an vielen Orten in Deutschland bisher noch schwierig, das "Persönliche Budget" tatsächlich zu bekommen. Vielen Menschen – auch in Politik und Verwaltung - fällt es bisher noch schwer, umzudenken.

Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen

In Deutschland trat 2009 das "Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen" (UN-Behindertenrechtskonvention) in Kraft. Das Übereinkommen ist ein internationaler Menschenrechtsvertrag, der auch "Konvention" genannt wird. In diesem Vertrag werden bereits bestehende Menschenrechte für die Lebenssituation behinderter Menschen konkretisiert. Die Konvention verpflichtet die Staaten, in denen sie in Kraft getreten ist, alles ihnen Mögliche zu tun, damit Menschen mit Behinderungen im selben Umfang wie alle anderen an der Gemeinschaft teilhaben können. In der Konvention finden sich viele Aspekte wieder, auf die die Behindertenrechtsbewegung in den Jahren zuvor aufmerksam gemacht hatte: Teilhabe, Selbstbestimmung, Nichtdiskriminierung, Chancengleichheit, Barrierefreiheit und die Anerkennung von Behinderung als Teil menschlicher Vielfalt sind zentrale Grundsätze des Vertrages.

Behinderungen entstehen erst im Zusammenspiel mit Hindernissen

Keine Form körperlicher, seelischer oder geistiger Besonderheit wird in diesem Vertragstext als Problem oder von vorneherein als Behinderung betrachtet. Behinderungen treten demzufolge erst dann auf, wenn zu individuellen Einschränkungen Hindernisse hinzukommen, die von anderen Menschen gemacht oder nicht abgebaut wurden und Zugänge versperren ("man-made-barrieres"). Behinderung wird als selbstverständlicher Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft ausdrücklich als eine Besonderheit unter vielen erachtet und darüber hinaus als Quelle möglicher kultureller Bereicherung wertgeschätzt.

Der Begriff der "Inklusion" in der Behindertenrechtskonvention beschreibt, dass alle Menschen verschieden sind und in dieser Unterschiedlichkeit überall dabei sein sollen, wenn sie das wollen. Um dies zu verwirklichen, müssen alle Menschen nicht nur Zugang zu allen Angeboten haben, sondern auch willkommen geheißen werden. Behinderung wird damit nicht mehr als rein individuelles Problem behandelt, um dessen Behebung sich jede und jeder Einzelne selbst kümmern muss.

Die von Menschen gemachten Barrieren können sehr unterschiedlich sein, und nicht alle Menschen empfinden Barrieren gleich. So werden in der Behindertenrechtskonvention zum Beispiel Mädchen und Frauen mit Behinderung als besonders häufig von Gewalt, Ausgrenzung und Armut betroffen genannt. Die Staaten haben sich verpflichtet, für solche Gruppen, aber auch für einzelne Menschen speziell bestehende Barrieren und Gefahren zu reduzieren. Dazu müssen Schulen, Arztpraxen, Busse, Kinos und alle anderen öffentlichen Einrichtungen so umgestaltet werden, dass alle Menschen hereinkommen können und willkommen geheißen werden.

Um zu überwachen, ob die Verpflichtungen aus der Konvention auch tatsächlich umgesetzt werden, soll es in allen Staaten eine Stelle geben, die diesen Prozess überwacht. In Deutschland ist dafür die Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte zuständig.

Damit sich alle Menschen tatsächlich willkommen fühlen können, reicht es jedoch nicht aus, Treppen durch Aufzüge zu ersetzen. Nicht nur die Staaten, sondern auch alle Menschen sind aufgefordert, auf mögliche Barrieren zu achten, die anderen Menschen Zugänge erschweren. Hierfür ist es wichtig, auch die Barrieren im eigenen Kopf beiseite zu räumen.