Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1933

Nach dem Ersten Weltkrieg

Nach dem ersten Weltkrieg nahm die Zahl der durch Kriegshandlungen oder Arbeitsunfälle an den Maschinen in den großen Industriebetrieben verletzten Menschen drastisch zu. Soldaten waren im Krieg verwundet worden oder hatten Gliedmaßen verloren. In den großen Industriebetrieben verletzten sich Arbeiterinnen und Arbeiter an den Maschinen. Beides hatte zur Folge, dass die bestehenden staatlichen, kirchlichen und familiären Versorgungssysteme nicht mehr ausreichten. Viele Familien verarmten, nachdem der Ernährer oder die Ernährerin einen Arbeitsunfall hatte. Diese Armut zog wiederum häufig gesundheitliche Einschränkungen nach sich. Dadurch, dass so viele Personen von Unfällen und Verletzungen betroffen waren – häufig auch aus dem engsten Bekannten- und Verwandtenkreis –, änderte sich die Haltung vieler Menschen zu Krankheit und Behinderungen.

Die "Krüppelpädagogik" entsteht

Immer mehr Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beschäftigten sich mit den Ursachen von Krankheit, Behinderungen und ihren medizinischen und pädagogischen Behandlungsformen. Mediziner, Medizinerinnen, Pädagoginnen und Pädagogen forschten und arbeiteten jetzt in speziellen Wissenschaftszweigen. In dieser Zeit wurde beispielsweise mit der sogenannten "Krüppelpädagogik" eine besondere Pädagogik für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen begründet. Es entstanden spezielle Heime und Anstalten, die Kinder und Jugendliche mit Behinderungen besuchen mussten. Auch die medizinische Psychiatrie etablierte sich. Sie begann, Menschen mit psychischen Krankheiten, geistigen Behinderungen oder sozialen Besonderheiten nicht mehr nur in Anstalten wegzusperren, sondern dort auch medizinisch zu behandeln.

Männer in Arbeit und Kinder in Heime

Damit sich Menschen mit Behinderungen – vor allem kriegsversehrte Männer – nicht als nutzlose Gesellschaftsmitglieder empfinden mussten und um ihre Arbeitskraft weiterhin nutzen zu können, wurden neue Gesetze beschlossen. Mithilfe dieser Gesetze sollten auch Menschen mit Behinderungen, vor allem Männer mit Körperbehinderungen, die Möglichkeit bekommen, wieder arbeiten zu gehen. Arbeitgebern wurde mit dem Schwerbeschädigtengesetz von 1920 (neu gefasst 1923 und dann wieder 1953) die Pflicht auferlegt, ein Prozent ihrer Arbeitsplätze mit sogenannten "Schwerbeschädigten" zu besetzen. Das Preußische Krüppelfürsorgegesetz (1920) und das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1924) bewirkten, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gezählt und erfasst wurden und ihre Bildung auf eine spätere Erwerbsfähigkeit ausgerichtet wurde. Nun hatten auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen die Möglichkeit, Schulen zu besuchen. Allerdings waren dies besondere, meist an Heime angeschlossene Schulen, wo sie getrennt von anderen Menschen lernen und wohnen mussten. Aufgrund dieser Trennung und Aussonderung setzte sich in dieser Zeit die Vorstellung durch, Behinderung sei etwas Medizinisches, Fremdes und rein Problematisches. Diese Vorstellung begleitet uns bis heute.

Der Beginn der Selbsthilfe-Bewegung

In dieser Zeit organisierten sich Frauen und Männer mit Behinderungen erstmalig selbst (zum Beispiel im Selbsthilfebund für Körperbehinderte von 1917) und begannen, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Sie wehrten sich gegen den Begriff "Krüppel", da dieser einen Menschen ausschließlich anhand einer Beschädigung seines Körpers - negativ - bezeichnet, statt den ganzen Menschen zu umfassen. Sie forderten statt des Begriffes "Krüppel" die Verwendung des Begriffs "Körperbehinderung".