"Man sieht nur, was man weiß" - NS-Verfolgte im Alter

Hintergrundtext

(Christina Hilgendorff)

Keine Epoche der deutschen Geschichte ist heute so gut erforscht wie die zwölf Jahre des Nationalsozialismus. Die Veröffentlichungen hierzu sind inzwischen unüberschaubar, auch im Fernsehen und Radio werden fast wöchentlich Dokumentationen und Filme gesendet. Um das historische Verständnis der Erzählungen zu erleichtern, richtet sich deshalb hier der Blick auf die NS-Verfolgten: Wer wurde verfolgt, warum, wann und wie. Zur Orientierung sind zentrale Aspekte und Begriffe hervorgehoben. In den Fußnoten und am Ende stehen Hinweise zum Weiterlesen und Weitersehen.

Die Verfolgung durch den NS-Staat war grausam und umfassend. Sie hat Millionen Menschen das Leben gekostet. Aber zu allen Zeiten und in allen Situationen haben Menschen sich gegen die Zerstörung ihres Lebens und das anderer gewehrt und für ihre Freiheit gekämpft. Es existieren unzählige Zeugnisse darüber, wie Menschen versucht haben – und wie es ihnen gelungen ist –, Widerstand zu leisten: durch kleine und große Akte der Solidarität, durch das Widersetzen und Unterlaufen von Verboten, durch Sabotage, bewaffneten Widerstand, durch Flucht, durch Aufstände in Gettos und Lagern oder auch durch das beständige Bemühen, der beabsichtigten seelischen und körperlichen Zerstörung in der Lagerhaft eine selbstbestimmte innere Welt entgegenzusetzen. Diese Erfahrungen haben alle Überlebenden der NS-Verfolgung auf die eine oder andere Weise gemacht. Das gilt es immer mitzudenken, wenn man die folgende knappe Darstellung liest, um die Menschen als Subjekte und nicht nur als Opfer der Verfolgung wahrzunehmen.

Die Ideologie

Die NS-Ideologie fußte auf einem extremen Biologismus, einer Weltsicht, in der Menschen von Natur aus ungleich sind, unterteilt in "höher- und minderwertige" Individuen, in Herren und Knechte, in Führer und Geführte. Die Menschen leben in einer "Volksgemeinschaft", in der sich durch "natürliche Auslese" die "Starken als Führende" durchsetzen, als solche die "wahren Interessen des Volkes" vertreten und deshalb Verfügungsgewalt besitzen. Dieses Konzept des Kampfes zwischen Oben und Unten, zwischen Freund und Feind wird übertragen auf die Ebene der Welt. Auch hier kämpfen "höher- und minderwertige Völker" um Herrschaft und Überleben.

In einem Regime, das auf diesem Konzept gründet, liegt ein besonderes Gewicht auf der Disziplinierung, Formierung, Gleichschaltung und Ausrichtung der eigenen Gesellschaft. Im Gegenzug erleiden alle, die nicht zu dieser Gemeinschaft dazugehören sollen, und diejenigen, die nicht dazugehören wollen, Ausgrenzung, Entrechtung, Verfolgung, Ausschluss und Vernichtung.

Im Nationalsozialismus gehörten zu der erstgenannten Gruppe diejenigen Menschen, die innerhalb des deutschen Volkes entsprechend der NS-Rassenhygiene als "minderwertig" und "volksschädigend" galten: Homosexuelle, Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung aber auch vermeintliche "Asoziale" und "Gewohnheitsverbrecher". Parallel dazu wurden Menschen als "rassisch minderwertig" definiert und ausgeschlossen. Juden, Sinti und Roma, slawische Völker, hier vor allem Russen und Polen, waren in dem Konzept des anthropologischen Rassismus hierarchisch eingestuft. Die Feindschaft gegen Juden und Jüdinnen war absolut, zielte erst auf Vertreibung, dann auf Vernichtung (mörderischer Antisemitismus). Zur zweiten Gruppe – Menschen, die nicht dazugehören wollten – zählten politische Gegnerinnen und Gegner und diejenigen Männer und Frauen, die aus moralischen und religiösen Gründen dem Nationalsozialismus widerstanden.

"Machtübernahme" 1933

Nachdem Hitler 1933 vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war, bauten die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten die von ihnen gehasste Weimarer Republik zügig in eine totalitäre Führerdiktatur um. Hitler löste sofort den Reichstag auf und setzte Neuwahlen an. Nach dem Reichstagsbrand im Februar wurden mit der Verordnung "Zum Schutz von Volk und Staat" die Grundrechte (hierzu gehörten etwa die Meinungs-, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung) außer Kraft gesetzt. Auf scheinbar legalem Weg verhängte man so einen permanenten und während des NS-Regimes nie aufgehobenen Ausnahmezustand. So konnten danach unter anderem Gegnerinnen und Gegner ohne Anklage und Beweise in "Schutzhaft" genommen und regimekritische Zeitungen verboten werden. Die "Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung" vom März 1933 stellte danach alle kritischen Äußerungen gegen die Regierung unter Strafe. Nach seinem knappen Wahlsieg im März 1933 legte Hitler das sogenannte Ermächtigungsgesetz vor, mit dem er seine Regierung der Kontrolle des Parlaments und der verfassungsmäßigen Kontrollorgane entzog. Mit Ausnahme der SPD stimmten die abgeordneten Männer und Frauen aller Parteien für das Gesetz. Die Sitze der KPD waren zu dieser Zeit bereits annulliert. Weitere wesentliche Maßnahmen der Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten waren die Gleichschaltung der Länder, der Gewerkschaften, der Jugendorganisationen, die Säuberungen der Behörden und schließlich das Verbot sämtlicher Parteien außer der NSDAP. Die erste deutsche Demokratie war damit binnen weniger Monate zerstört.

Diskriminierung, Entrechtung und Dehumanisierung

Zu den Opfern der Verfolgung dieser ersten Monate gehörten Gegnerinnen, Gegner, Kritikerinnen und Kritiker der Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten, so Männer und Frauen der KPD, der SPD, der Gewerkschaften, der Verbände und zivilgesellschaftlichen Organisationen (zum Beispiel Deutsche Liga für Menschenrechte), Journalistinnen und Journalisten, Rechtsanwältinnen und -anwälte, Richterinnen und Richter, kritische Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler. Angehörige der SA verschleppten unzählige Menschen in sogenannte wilde Konzentrationslager und Gefängnisse, die überall im Land entstanden. Im Sommer 1933 saßen über 26.000 Menschen in "Schutzhaft". Rechtlos waren sie den Schikanen, Entwürdigungen und schweren Misshandlungen der SA-Männer ausgeliefert. (2)

Gleichzeitig begannen die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten, die "arische Volksgemeinschaft" zu propagieren und entsprechend ihrer Rassenideologie Menschen anzugreifen und zu diskriminieren. So setzte unmittelbar mit der Regierungsübernahme die rechtliche Diskriminierung jüdischer Bürgerinnen und Bürger ein. Sie wurden aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen, erste Berufsverbote und Ausschlüsse aus Berufsverbänden und -kammern erlassen. "Deutsche, kauft nicht bei Juden" forderte die SA die Bevölkerung am 1. April 1933 zu Boykott und Entsolidarisierung auf. Es kam zu Übergriffen, die sich auch gegen Ärztinnen und Ärzte, Rechtsanwältinnen und -anwälte, Richterinnen und Richter sowie Intellektuelle richteten. (3)

Ende 1934 wurde die "Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe" durch das sogenannte Heimtückegesetz abgelöst. Jede nicht konforme Äußerung konnte angezeigt werden und zu Haft- und Todesstrafe führen. Der Denunziation waren damit Tür und Tor geöffnet, und Menschen wurden durch Bekannte, Kolleginnen und Kollegen, Nachbarinnen und Nachbarn, Vermieterinnen und Vermieter, Freundinnen und Freunde, Familienangehörige etc. angezeigt. Vor den sogenannten Sondergerichten gab es keine Rechtsmittel. Die Angeklagten waren damit ohne jegliche Möglichkeit der Verteidigung. Mit Kriegsbeginn 1939 traten immer neue Strafbestimmungen in Kraft: etwa gegen das Hören von Feindsendern, bei Kontakten zu Kriegsgefangenen, bei Diebstählen während der Verdunklungszeiten. Die Verurteilungen nahmen jetzt dramatisch zu. Der als Sondergerichtshof errichtete "Volksgerichtshof" fungierte ab 1936 sogar als ordentliches Gericht mit der Zuständigkeit für Landes- und Hochverrat, später auch für schwere Wehrmittelbeschädigung, Feindbegünstigung, Spionage und Wehrkraftzersetzung. Allein hier fällten die Juristen und Juristinnen bei 18.000 Urteilen 5.200 Todesurteile. (4)

Am 1. Januar 1934 trat das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Kraft, mit dem Menschen, die beispielsweise an Schizophrenie oder Epilepsie litten, blind oder taub waren, Fehlbildungen hatten oder alkoholabhängig waren, zwangssterilisiert werden konnten. Das Gesetz ermöglichte auch die Kastration homosexueller Männer. Auch Sinti und Roma waren als "erbkrank" und "erbkrankverdächtig" vielfach Opfer der Zwangssterilisation. Allen diesen Menschen verweigerte der NS-Staat ihr Menschsein, indem er ihre Möglichkeit der Fortpflanzung zerstörte. Bei der Umsetzung des Gesetzes arbeiteten in den folgenden Jahren Mediziner und Medizinerinnen, Juristen und Juristinnen, Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter sowie Pflegende der Kreisgesundheitsämter, der Erbgesundheitsgerichte, chirurgischer und gynäkologischer Kliniken sowie psychiatrischer Heil- und Pflegeanstalten eng zusammen. Man geht heute davon aus, dass mindestens 400.000 Menschen dieser körperlichen und seelischen Verstümmelung und Verletzung zum Opfer fielen. (5)

1935 verschärften die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten den Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte. Die Höchststrafe lag jetzt bei zehn Jahren statt der bisherigen sechs Monate. Etwa 100.000 Männer wurden bis 1945 verurteilt, eine unbekannte Zahl von ihnen in psychiatrische Anstalten eingewiesen, 10-15.000 Männer in Konzentrationslagern inhaftiert, in denen mindestens 6.000 umkamen. Frauen wurden nicht strafrechtlich verfolgt, waren aber genauso gezwungen, ihre Homosexualität zu verbergen. (6)

Im September 1935 wurden auf dem Nürnberger Parteitag die sogenannten Rassegesetze verkündet. Mit dem "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" wurden Eheschließungen zwischen Juden/Jüdinnen und Nicht-Juden/Nicht-Jüdinnen sowie der außereheliche Geschlechtsverkehr als Delikt der "Rassenschande" verboten und Verstöße mit Haft bestraft. Dieses Gesetz wurde auch auf Männer und Frauen der Sinti und Roma angewandt. Der sogenannte Arierparagraf definierte Menschen entsprechend ihrer "rassischen Abstammung" als "Volljuden", "jüdische Mischlinge 1. und 2. Grades", "Halb- und Vierteljuden", als "Geltungsjuden" und "jüdisch versippt". Der Gesetzgeber entschied ab jetzt, wer Jude und Jüdin war, diskriminierte und verfolgte die Menschen mit einem sie spaltenden Gesetzes- und Maßnahmenkatalog. Das ebenfalls verkündete "Reichsbürgergesetz" schränkte die Rechte aller Deutschen jüdischen Glaubens oder mit zwei Großeltern jüdischen Glaubens ein. Sie waren jetzt nicht mehr Bürgerinnen und Bürger, sondern Staatsangehörige ohne politische Rechte.

Es folgten in den nächsten Jahren immer mehr Gesetze, die Menschen ausgrenzten und ihre Lebensgrundlagen zerstörten. Aber noch versuchte der Staat, Bürgerinnen und Bürger damit zum Verlassen des Landes zu zwingen. So begann 1937 der staatlich organisierte Raub jüdischen Eigentums mit der sogenannten Arisierung. (7) Juden und Jüdinnen wurden gezwungen, ihren Besitz weit unter Wert zu verkaufen. Berufsverbote wurden ausgeweitet, Theater- und Kinobesuche verboten, die Zwangsnamen Sara und Israel eingeführt, Pässe gekennzeichnet. Am 9. November 1938 initiierten die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten einen reichsweiten Pogrom – noch heute oft verharmlosend "Kristallnacht" genannt – gegen Jüdinnen und Juden. Aus staatlich-administrativer Diskriminierung wurde jetzt brachiale Gewalt. Synagogen, Geschäfte und Wohnhäuser wurden zerstört und ausgeplündert, unzählige Menschen erniedrigt, misshandelt und vergewaltigt. Mindestens 91 Menschen starben. Um den Emigrationsdruck auf die deutschen Jüdinnen und Juden weiter zu erhöhen, wies man im Anschluss 25.000 Männer vorübergehend in Konzentrationslager ein, jüdische Organisationen, Zeitungen und der Schulbesuch jüdischer Kinder in öffentlichen Schulen wurden verboten. (8)

Aufgrund privatpolitischer Initiativen kam es nach dem Pogrom zu einer vorübergehenden Lockerung der britischen Einreisebestimmungen für jüdische Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre aus Deutschland. Mit den sogenannten Kindertransporten, finanziert unter anderem von den jüdischen Gemeinden Großbritanniens, kamen etwa 10.000 Kinder bis Kriegsbeginn in britische Pflegefamilien und Kinderheime. Die deutschen Behörden quälten die Menschen mit grausamen Ausreisebestimmungen. So durften die Kinder nur wenige persönliche Dinge mitnehmen, Spielsachen und Bücher waren verboten, Fotografien begrenzt. Die Eltern wussten nicht, wohin sie ihre Kinder gaben und ob sie sie je wiedersehen würden. Die kleinen und jungen Menschen verloren ihre Familie, ihr Zuhause, ihre Sprache und waren mit der neuen Situation in der Fremde völlig allein. Die Familien konnten den Kontakt nach Kriegsbeginn 1939 nicht halten, und so erfuhren sie erst nach 1945, ob die Eltern und Kinder überlebt hatten. (9)

1937/38 erweiterte das NS-Regime die Funktion der Konzentrationslager. Inzwischen reorganisiert und unter der Herrschaft der SS stehend, wurden sie jetzt auch ein Instrument der NS-Rassenhygiene. Neben politischen Gegnerinnen und Gegnern inhaftierte man nun immer mehr Menschen, die aus rassenhygienischen Gründen verfolgt wurden: angebliche "Berufs-, Sittlichkeits- und Gewohnheitsverbrecher" sowie "asoziale Elemente" – als asozial galt, wer sich nicht in die nationalsozialistische "Volksgemeinschaft" einfügte. Einen Höhepunkt dieser Verfolgungen bildete die Aktion "Arbeitsscheu Reich" im Jahr 1938. In Razzien wurden über 10.000 Menschen verhaftet, die nicht sesshaft waren, keiner geregelten Lohnarbeit nachgingen, in Obdachlosen- und Fürsorgeheimen lebten. (10)

Eine Opposition gegen die Politik und den absoluten Herrschaftsanspruch der Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten kam nicht nur von ihren politischen Gegnerinnen und Gegnern. Widerstand entstand auch da, wo moralische und religiöse Werte angegriffen wurden. Neben all den Männern und Frauen, die als Gläubige in ihrem Alltag widerstanden, bildeten die Zeugen Jehovas eine besondere Gruppe, die sich konsequent der Gleichschaltung verweigerte. Ihre Mitglieder lehnten die Ideologie des Nationalsozialismus ab, traten keinen NS-Organisationen bei, verweigerten den Wehrdienst. Die Zeugen Jehovas wurden deshalb verboten, mit mehreren Verhaftungswellen massiv verfolgt und Kinder in "arische" Pflegefamilien oder Erziehungsheime verschleppt. Von den 25.000 Zeugen Jehovas wurden etwa 10.000 inhaftiert. Mindestens 1.200 Menschen starben in Konzentrationslagern, dort stigmatisiert mit einer eigenen Kennzeichnung, dem lila Winkel. Sie waren von der SS besonders gehasst, da sie auch in den Lagern standhaft an ihren religiösen Überzeugungen festhielten. (11)

Sinti und Roma brandmarkte das NS-Regime gleichermaßen als "fremdrassig" und "asozial volksschädigend". Anknüpfend an die Diskriminierungen in Deutschland vor 1933, begannen kommunale Behörden bald, Sinti und Roma gezielt zu vertreiben. So wurden Stellplätze der Wohnwagen zerstört, Mieten erhöht und die Menschen verstärkt kontrolliert. Man errichtete bewachte "Zigeunerlager", erteilte Berufsverbote und zwang die Menschen in Lohnarbeit. Ab 1937 wurden Sinti und Roma in einer Kartei erfasst und nach NS-Rassenkriterien definiert. Als das NS-Regime 1938 begann, "Asoziale" mit Disziplinierung und Strafe zu verfolgen, zählten viele Männer und Frauen der Sinti und Roma zu den Opfern. Nach Kriegsbeginn 1939 durften sie ihren Wohnort unter Androhung der Konzentrationslagerhaft nicht mehr verlassen. 1940 deportierte die SS erstmals deutsche Sinti und Roma in Gettos und Konzentrationslager im Osten, wo sie unter schlimmsten Lebensbedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Am 16. Dezember 1942 ordnete Himmler mit dem sogenannten Auschwitzerlass die Deportation der europäischen Sinti und Roma in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz an. Mindestens 20.000 Männer, Frauen und Kinder wurden hier ermordet. In ganz Europa sind etwa 500.000 Menschen dem Massenmord an den Sinti und Roma zum Opfer gefallen. (12)

Unzählige Menschen wurden damals aus ihrer Heimat vertrieben. Sie flüchteten, sofern sie die finanziellen Möglichkeiten hatten und Länder fanden, die sie aufnehmen wollten. Weltweit verschärften immer mehr Staaten ihre Einreisebestimmungen, um den Zustrom abzuwehren. Die Flüchtenden mussten ihr Zuhause, Familienangehörige, Freunde und Freundinnen, ihre Arbeit und ihren Besitz zurücklassen oder wurden ihres Besitzes beraubt – Juden und Jüdinnen durften bei ihrer offiziellen Emigration nur eine geringe Summe mitnehmen. Nicht selten lebten die Menschen im Ausland unter schwierigen Bedingungen und konnten dort nicht an ihr berufliches Leben anknüpfen. Viele holte die Verfolgung wieder ein, als der Zweite Weltkrieg begann, da Regierungen häufig geflüchtete Deutsche zu Kriegsbeginn in Lagern internierten und die Menschen so ihren Verfolgern und Verfolgerinnen nicht mehr entkommen konnten.

Wer nicht flüchten konnte, versuchte sich zurückzuziehen oder ging in den Untergrund und lebte versteckt. Tauchten Menschen zu Beginn der NS-Herrschaft unter, um von dort aus weiter gegen die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten zu arbeiten, taten sie es bald, um der rassistischen Verfolgung zu entgehen und ihr Leben zu retten. Dabei waren sie völlig auf die Unterstützung anderer angewiesen und abhängig von deren Verschwiegenheit. Ihre Existenz war geprägt von der ständigen Angst, entdeckt oder verraten zu werden. Ohne festes Zuhause lebten sie mit einer fremden Identität unter fremden Menschen, nie wissend, wann sie diesen Unterschlupf verlassen mussten, weil er unsicher geworden war, und ob sie in ein neues illegales Quartier vermittelt werden würden. (13)
 
Besonders furchtbar ist in dieser Verfolgtengruppe das Erleben der versteckten Kinder. So waren insbesondere jüdische Eltern – nach Kriegsbeginn in ganz Europa – gezwungen (sofern sie überhaupt die Möglichkeit hierzu hatten), ihre Söhne und Töchter in die Obhut fremder Familien und (vielfach kirchlicher) Institutionen zu geben, um damit das Leben ihrer Kinder zu retten. Dabei wussten sie nie, ob ihre Kinder dort geborgen und sicher sein würden. Nur sehr selten konnten die Familien anschließend miteinander in Kontakt bleiben oder überhaupt eine Nachricht voneinander bekommen. Die Kinder verloren ihre Eltern, ihr Zuhause, ihre Identität und Wurzeln. Ausgestattet mit einem neuen Namen und einer neuen Religion, waren sie den sie aufnehmenden Menschen schutzlos überlassen. Auch nach dem Krieg hörte ihr Leid nicht auf. Wenn sie überhaupt wussten, dass sie unter falscher Identität gelebt hatten – gerade damals sehr kleine Kinder können sich an ihr "erstes Leben" nicht bewusst erinnern –, war es vielen nicht möglich, ihre Eltern wiederzufinden bzw. den Leidensweg der Eltern und ihre eigene Identität nachzuzeichnen. (14)

Der Zweite Weltkrieg: Massenmord und Zwangsarbeit

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 setzte eine Radikalisierung der Verfolgung ein. Eine völlige Entgrenzung der Gewalt durch die Brutalisierung des sich ausweitenden verbrecherischen Krieges (…) setzte ein, die im Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden, an den Sinti und Roma, an Kranken und Behinderten mündete und Millionen Menschen – Zivilistinnen, Zivilisten und Kriegsgefangene – das Leben kostete, die in Gefangenschaft an Hunger und Krankheiten starben und massakriert wurden, weil sie als "minderwertig" und "weltanschauliche Feinde" galten.

Einen Monat nach dem Überfall auf Polen erließ Hitler den sogenannten Euthanasiebefehl, mit dem die systematische Tötung der als "lebensunwert" eingestuften Menschen in Deutschland begann. Ärztinnen und Ärzte der "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten" erfassten und wählten die Opfer aus. In Grafeneck tötete das Personal Ende 1939 die ersten Menschen. Weitere Euthanasieanstalten entstanden in Hadamar, Brandenburg an der Havel, Bernburg, Schloss Hartheim und in Sonnenstein. Nach Protesten aus der deutschen Gesellschaft wurden Tötungen ab 1941 im Geheimen durchgeführt und später auf kranke, arbeitsunfähige und "rassisch minderwertige" Häftlinge in den Konzentrationslagern ausgedehnt. Bis 1945 fielen mindestens 300.000 Menschen der Euthanasie durch Vergasung, Erschießung, tödliche Injektionen sowie Hunger und systematischer Erschöpfung zum Opfer. (15)

Immer mehr Staaten gerieten mit Beginn des Krieges unter die Herrschaft der Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen. Länder wurden besetzt oder auch als befreundete "Satellitenstaaten" mittels gleichgesinnt Regierender kontrolliert, die ihrerseits Oppositionelle verfolgten und rassistische Gesetze erließen.

In Polen setzten nach dem Überfall sofort Verfolgungsmaßnahmen ein. Es kam zu Exzessen an der polnischen Bevölkerung. Menschen wurden auf offener Straße gequält und ermordet, Politikerinnen und Politiker, Geistliche, Lehrende, Ärztinnen und Ärzte, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter – die Führungsschicht des Landes – in Konzentrationslager verschleppt. (16) Das Land wurde zerschlagen, Teile von Deutschland und der Sowjetunion annektiert und auf dem Restgebiet das sogenannte Generalgouvernement errichtet. Polen wurde in der Folge zu einem "Experimentierfeld" der deutschen Rassenpolitik, hier erreichte diese in den nächsten Monaten einen ersten mörderischen Höhepunkt, bevor das NS-Regime sie mit dem Krieg auf andere Länder ausweitete. Die polnische Bevölkerung wurde aus den "eingedeutschen" westlichen Gebieten in das „Generalgouvernement“ deportiert und zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Juden und Jüdinnen pferchte die SS unter katastrophalen Lebensbedingungen in Gettos zusammen, so etwa in Warschau, Lodz und Lublin. (17) Zehntausende Männer, Frauen und Kinder starben hier an Hunger und Krankheiten, während sie Zwangsarbeit für die Deutschen leisten mussten.

Mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde im Osten ein Krieg fortgesetzt, der von Beginn an als Rassen- und Vernichtungskrieg, als Kampf um "Lebensraum" geführt wurde. Einsatztruppen der SS und der Polizei folgten der vordringenden Wehrmacht und ermordeten unter anderem in Litauen, Estland, der Ukraine, in Rumänien und in der Sowjetunion systematisch Jüdinnen, Juden, Sinti und Roma sowie "kommunistische Funktionäre, Partisanen und Saboteure". Zehntausende Männer, Frauen und Kinder wurden bei diesen Massakern in Wäldern oder auf freiem Feld erschossen, erschlagen, verbrannt und in unzähligen Massengräbern verscharrt. Ende des Jahres hatten die Deutschen fast eine halbe Millionen Menschen ermordet. (18) Auch die Wehrmacht und inländische Helfer und Helferinnen beteiligten sich an diesen Morden. Gleichzeitig wurden auch hier wie in Polen Jüdinnen, Juden, Sinti und Roma in Gettos und Arbeitslager zusammengepfercht. (19) Diese Lager wurden danach immer wieder systematisch durchkämmt und weitere Erschießungen durchgeführt. Menschen versuchten ihr Leben zu retten, indem sie untertauchten. Sie lebten dann versteckt in Städten und Wäldern unter elenden Bedingungen, ständig in der Angst, entdeckt und verraten zu werden.

Hinter dieser Front wurden im besetzten Polen zu diesem Zeitpunkt die Vernichtungslager errichtet. Anfangs in Gaswagen, dann in den allein für die Ermordung errichteten Lagern Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka und in dem Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek tötete die SS ab Dezember 1941 die in die Gettos gezwungenen Jüdinnen und Juden. Allein in Treblinka ermordete die SS 750.000 Menschen. Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz wurde später das Zentrum der Vernichtung. Nachdem Himmler im Sommer 1942 den Ausbau befohlen hatte, tötete die SS hier in vier Gaskammern und den ihnen angeschlossenen Krematorien Jüdinnen, Juden, Sinti und Roma aus ganz Europa. Nach tagelangen quälenden Transporten ohne jegliche Versorgung wurden die Menschen nach ihrer Ankunft von der SS für Arbeitseinsätze und medizinische Versuche selektiert oder aber sofort vergast und verbrannt. (20)

Ab Winter 1941 setzte auch die systematische Deportation der deutschen und westeuropäischen Jüdinnen und Juden in die unzähligen Gettos sowie in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten ein, in denen sie massakriert, erschossen und vergast wurden. (21) Über sechs Millionen Menschen fielen insgesamt diesem Massenmord zum Opfer: Männer, Frauen und Kinder aus Albanien, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Lettland, Litauen, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Ungarn.

Deutschland beutete die im Kriegsverlauf besetzten Länder Ost- und Westeuropas gezielt für die eigenen Bedarfe aus. Millionen Menschen wurden zur Arbeit in der Kriegswirtschaft gezwungen. Ohne diese Ausbeutung wäre die deutsche Rüstungsproduktion zusammengebrochen. Ab 1939/40 leisteten so Kriegsgefangene sowie Fremd- und Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter in vielen Bereichen der deutschen Wirtschaft Zwangsarbeit: im Bergbau und der (Rüstungs-)Industrie, in der Land- und Forstwirtschaft, den Kommunalbetrieben, der Verwaltung, im Handwerk und in Privathaushalten. Nahezu jeder große und kleine Betrieb beschäftigte bei Kriegsende ausländische Arbeitskräfte. Allein in Berlin gab es 1945 über 4.000 Zwangsarbeiterlager. Die Männer und Frauen, Kinder und Jugendlichen kamen aus vielen Ländern West- und Osteuropas. Sie waren entweder unter falschen Voraussetzungen als Fremdarbeiterinnen und –arbeiter angeworben oder aber verschleppt worden. Untergebracht in Zwangsarbeiterlagern – bewachten Barackenlagern – oder bei Privatpersonen, richtete sich ihre Lebens- und Arbeitssituation nicht nur nach ihrem Arbeitsort, sondern auch nach ihrer Stellung innerhalb der NS-Rassenhierarchie: Die als Ostarbeiterinnen und –arbeiter gekennzeichneten Menschen aus Polen, der Ukraine, Weißrussland, Russland etc. litten an Mangelversorgung und unterlagen einem härteren Straf- und Arbeitssystem als die sogenannten Westarbeiterinnen und –arbeiter aus beispielsweise Frankreich, Belgien oder den Niederlanden. Die Kontakte zwischen den Fremdarbeiterinnen bzw. –arbeitern und der deutschen Bevölkerung regelten detaillierte Erlasse, dabei wurden sexuelle Beziehungen vor dem Hintergrund der NS-Rassenhygiene mit Hinrichtung oder Einweisung in Konzentrationslager bestraft. (22) Bummelei und Sabotage, Arbeitsniederlegungen sowie unerlaubter Umgang mit Deutschen in den Betrieben wurden mit Arbeitserziehungslager geahndet. Die Einweisung der Menschen erfolgte ohne Gerichtsverfahren, die Haftdauer war unbestimmt. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen entsprachen denen der Konzentrationslager. (23)

Besondere Grausamkeit und Leid erlebten schwangere Osteuropäerinnen und ihre Kinder. Wurden die Frauen anfangs noch in ihre Heimatländer zurückgeschickt, ging das NS-Regime bald dazu über, Zwangsabtreibungen durchführen zu lassen. Die Neugeboren wurden ihren Müttern weggenommen und in sogenannten "Ausländerkinder-Pflegestätten" untergebracht, in denen man die Kinder an Unterversorgung sterben ließ. Nicht genug damit, dienten manche der Frauen in den Kliniken auch als Versuchsobjekte für die medizinische Ausbildung und gynäkologische Forschungen.

Die letzten Monate und Wochen des Krieges waren gekennzeichnet von einer unglaublichen Brutalität, Wut und Willkür, der noch zahllose Häftlinge, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen kurz vor der nahenden Befreiung zum Opfer fielen. So räumte die SS die Konzentrationslager vor den heranrückenden Fronten. SS-Männer und Aufseherinnen trieben die völlig ausgezehrten und kranken Menschen in tagelangen Transporten und Märschen meist ohne jede Versorgung in Richtung Westen, von einem Lager zum anderen, oft genug auch ziellos, um dann selbst zu flüchten. Viele Häftlinge starben entkräftet auf diesen Todesmärschen oder wurden erschossen, wenn sie nicht mehr weiterkonnten. (24) Die Angst vor der Kapitulation führte auch zu immer größeren Aggressionen gegen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter. Die Gefahr, unmittelbar vor der Befreiung noch wegen Arbeitsvertragsbrüchen, Plünderungen, Sabotage und anderen Verdächtigungen von der Gestapo hingerichtet zu werden, war groß. (25)

Die NS-Militärjustiz ahndete bis zum Schluss die Verweigerung und Desertion aus diesem Krieg mit unnachgiebiger und grausamer Härte. Vor Militärgerichten wurden tausende Soldaten wegen Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung, Kriegsverrat und anderer Delikte zum Tode verurteilt, 25.000 dieser Urteile wurden vollstreckt. Alles konnte das Leben kosten: das Abhängen eines Hitlerbildes, kurzfristiges Verlassen der Einheit, Hilfe für Verfolgte oder "Kooperation mit dem Feind". Die Wehrmacht verfügte über ein komplexes Strafsystem und diverse Strafinstitutionen. So gab es etwa bewegliche Heeresgefängnisse an der Front, Feldstraflager und Bewährungseinheiten. In den letzten Monaten und Wochen des Krieges operierten die Militärjuristen und –juristinnen sogar als "fliegende Standgerichte des Führers", ließen selbst Jugendliche und alte Männer inhaftieren, erschießen und als "Feiglinge" aufhängen. (26)

Exkurs: Haftbedingungen in den Konzentrationslagern

In Deutschland und in den besetzten Ländern entstanden nach Kriegsbeginn immer mehr und immer neue Formen der Haft- und Straflager, sodass eine Aufzählung hier unmöglich ist. Im Folgenden sollen aber wichtige Haftinstrumente, die die SS in den Konzentrationslagern einsetzte, beschrieben werden, um ein Verständnis für die seelischen und körperlichen Verletzungen Überlebender dieser Lager zu bekommen.

Die Menschen befanden sich in ständiger Lebensgefahr. Die Lebensbedingungen in den KZ waren dabei so organisiert, dass man die Menschen immer grundsätzlich in ihrer Würde und ihrem Menschsein angriff. Die SS versuchte, ihnen ihre Individualität zu nehmen und ihre Persönlichkeit zu zerstören. Zugleich setzte sie sie einem Prozess sozialer Vereinzelung aus. (27) Die folgende Erinnerung eines Überlebenden spiegelt eine der tiefen Verletzungen wider, die den Menschen in den KZ durch die SS zugefügt wurde. Noch heute empfindet er (auch) tiefes Entsetzen und Scham, wenn er an seine Lagerhaft denkt: Im Lager habe man immer einen Blechtopf dabei gehabt. Wenn man etwas Essbares gesehen habe, habe man versucht, es mitzunehmen und, wenn irgend möglich, auch verträglich zuzubereiten. Er habe neben Leichen Kartoffeln in seinem Blechnapf gekocht und gegessen. Das habe er gemacht, schrecklich sei das gewesen. (28)
 

Transport und Aufnahme in das Konzentrationslager

Schon die fehlende Versorgung und die Misshandlung der Menschen während des Transports in die Lager waren eine erste gezielte Einschüchterung und Verletzung. Mit einem Aufnahmeritual erfolgte dann die Eingliederung des einzelnen Menschen in die Masse der Häftlinge. Die Männer und Frauen mussten ihre persönlichen Dinge abgeben, sie wurden abgeduscht, untersucht – auch genital – und rasiert, erhielten Lagerkleidung und wurden als Nummer registriert. Die SS beabsichtigte in dieser ausgeklügelten Abfolge von Erniedrigung, Gewalt und Verstümmelung die Entindividualisierung und den Zusammenbruch der Integrität der Menschen.

Hierarchisierung der Häftlinge

Mit der Aufnahme in das Lager erfolgte auch die Zuordnung der Menschen zum Kategoriesystem der SS: "Rasse", Nationalität, politische Feindschaft, soziale Abweichung. Diese Zuordnung war neben der Häftlingsnummer an der Kleidung für alle in Form von verschiedenfarbigen Winkeln sichtbar. Mit ihr wurde die soziale Stellung der Menschen im Lager festgelegt und damit gleichzeitig der Zugang zu Ressourcen wie der Arbeitsort oder die Übernahme von Funktionen definiert (zum Beispiel als Kapo, der oder die als Häftling andere Häftlinge beaufsichtigte, kontrollierte und dafür Vergünstigungen erhielt). Je niedriger die Menschen in der Lagerhierarchie standen, desto schlechter waren ihre Überlebenschancen. Durch diesen Mechanismus der Differenzierung kam es zu Abständen, Gegensätzen und sozialen Grenzlinien zwischen den Häftlingen. Die SS versuchte so, die Menschen untereinander zu spalten und zu entsolidarisieren.

Mörderische Zwangsarbeit und elementare Mangelversorgung

Die Arbeit im Lager sicherte nicht das Leben, sondern ruinierte es. Die SS vernichtete die Menschen durch Arbeit. Sie wurden zu schwersten körperlichen Tätigkeiten gezwungen, zum Beispiel im Straßenbau, zu Erd- und Grubenarbeiten, zu schwersten Arbeiten in der Rüstungsindustrie. Die Arbeitszeiten waren sehr lang, zwischen zehn und 12 Stunden, und die Ernährung völlig unzureichend; die Menschen hungerten furchtbar. Begleitet von langen Appellen sowie weiten An- und Abmarschwegen führte dies schnell zur Erschöpfung. Da die Bekleidung der Menschen bewusst ungenügend war und ihnen eine wirksame hygienische und medizinische Versorgung vorenthalten wurde, erkrankten und starben sie an Infektionen, hervorgerufen etwa durch Kälte und kleinste Verletzungen, epidemisch weitergetragen durch Läuse und Flöhe. Diese grausamen Lebensbedingungen erschwerten auch das solidarische Handeln der Menschen untereinander und griffen so wiederum Humanität und Würde an.

Kontrolle und Strafe

Das Lager war ein System gnadenloser Kontrolle. Durch die Abriegelung von der Außenwelt und die innere Gliederung entstand ein Zwangsraum, in dem der oder die einzelne in eine Masse eingliedert war. Die Menschen wurden in kompakten Einheiten (zum Beispiel Appell, Arbeitskommandos) überwacht und beherrscht. In den Baracken entstand durch Überfüllung eine Zwangsgemeinschaft, in der jede Individualität und jede Intimsphäre aufgehoben waren.

Das Lagerregime der SS war brutal und unberechenbar, das errichtete Strafsystem willkürlich, seine Anforderungen inhaltlich widersprüchlich und zeitlich nicht zu vereinbaren. Gehorsam schützte nicht vor Strafe. Die Lagerordnung war ein Terrorinstrument der SS mit dem Ziel, Strafsituationen zu schaffen. Der sadistischen Fantasie der SS-Männer und Aufseherinnen waren dabei keine Grenzen gesetzt: stundenlange Kollektiv- und Einzelappelle in Kälte und Hitze, Exerzieren, grauenvolle Schläge, Pfahlhängen, Einzelhaft, Stehbunker, Folter, Hinrichtung. Die Gewalt war keine Sanktion, sondern Selbstzweck. Die Menschen lebten in ständiger Todesangst.

Kriegsende und "Neubeginn": Kampf der NS-Verfolgten um Anerkennung und Gerechtigkeit

Bei Kriegsende befanden sich mehrere Millionen verschleppter Menschen auf deutschem Boden. Die westlichen Alliierten errichteten sogenannte Displaced-Persons-Camps (DP-Lager), um ihre Versorgung zu gewährleisten und sie von hier aus möglichst schnell in ihre Heimat zurückzubringen. Die DP-Lager entstanden nicht nur häufig in unmittelbarer Nähe der ehemaligen NS-Lager, sondern diese wurden auch direkt genutzt. Es gelang den Alliierten bis Herbst 1946, den Großteil der Menschen zurückzuführen. Sowjetische Staatsbürgerinnen und –bürger wurden entsprechend einer Vereinbarung zwischen den Alliierten auch zwangsweise repatriiert. Dies geschah mit dem Wissen der westlichen Alliierten, dass die Rückkehrenden der Kollaboration verdächtigt wurden und von Repressionen, Umerziehungsmaßnahmen, Lagerhaft und schlimmstenfalls mit Hinrichtung bedroht waren. Deshalb versuchten Menschen aus allen Gebieten des sowjetischen Einflussbereichs, in Deutschland zu bleiben, sie widersetzten oder entzogen sich der Rückführung. Zurück blieben auch Jüdinnen und Juden, die nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten, weil es diese nicht mehr gab und sie auf Auswanderungsmöglichkeiten nach Übersee und Palästina warteten. (29) Manche DP-Lager wandelten sich im Laufe der Jahre langsam in Wohnsiedlungen um, in denen manchmal noch heute ehemalige Zwangsarbeiterinnen und –arbeiter leben. Das letzte DP-Lager wurde 1959 geschlossen.

Mit Kriegsende setzte aber auch eine umgekehrte Bewegung ein: In die Emigration und zur Flucht gezwungene Deutsche kehrten in ihre Heimat zurück. Männer und Frauen, die sich am Aufbau eines neuen, besseren Deutschlands beteiligen wollten, aber auch Menschen, die sich nach ihrer Heimat sehnten und hofften, dort wieder zuhause sein zu können. (30) Besonders für Jüdinnen und Juden, die in ihre Heimat zurückkehrten, war dies kein leichter Weg. In ihrem Alltag mit Anti- und Philosemitismus konfrontiert, entstand bei manchen von ihnen auch ein Schuldgefühl, im Land der Täter und Täterinnen zu leben. (31) Deutschland hat sich weder um die Rückkehr der vertriebenen Menschen besonders bemüht noch sie offen aufgenommen. Weder in Ost- noch in Westdeutschland war man an einer Auseinandersetzung mit den Verbrechen oder an politischen Ideen interessiert, die die politischen und gesellschaftlichen Weichenstellungen und Entwicklungen in Frage stellten.

Zurück kam auch eine andere Gruppe: diejenigen Deutschen, die die Konzentrationslager und Gefängnisse überlebt hatten. Entkräftet, verletzt an Körper und Seele, trafen sie in ihren Städten und Dörfern ein. Vielfach schlug ihnen hier Ablehnung entgegen. So wollte man etwa Sinti und Roma oder Jüdinnen und Juden nicht in die Gemeinden aufnehmen, und Bürgermeister und Bürgermeisterinnen versuchten, die Rückkehrenden weiterzuschicken. Die Überlebenden der mörderischen Verfolgung erlebten im Anschluss an ihre Befreiung oft Ausgrenzung und Gleichgültigkeit und mussten – sofern sie nicht auswanderten – unter diesen Bedingungen ihr Leben wieder aufbauen. (32)

Die deutsche Bevölkerung wollte nach dem Krieg in der großen Mehrheit vom Leid der überlebenden Menschen der Konzentrationslager, der Zwangsarbeit, der Flucht und Vertreibung nichts hören. Nicht nur Berichte und Gerüchte von gewalttätigen Ausschreitungen und Plünderungen beherrschten die Wahrnehmung, sondern die Überlebenden wurden ob ihrer angeblich privilegierten Stellung in der Obhut der Alliierten auch mit Neid betrachtet. Viele Deutsche sahen sich selbst als Opfer und nicht als Täterinnen und Täter: Opfer der Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten, Opfer des Bombenkrieges, Opfer der Flucht und Vertreibungen, die 1944/45 in den ehemals besetzten Ländern Mittel-Osteuropas einsetzen. Hannah Arendt, deutsch-jüdische Philosophin und 1933 vertrieben, reiste 1951 nach Deutschland und beobachtete: "Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird darüber weniger gesprochen als in Deutschland. Überall fällt einem auf, daß es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. (...) Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und sich damit abzufinden." (33)

Die Alliierten führten 1945/46 in Nürnberg einen Prozess gegen die NS-Führung, in dem sie deren Mitglieder als Hauptkriegsverbrecher anklagten und sie zu Todes-, lebenslangen und langjährigen Haftstrafen verurteilten. Es folgten zwölf weitere Prozesse gegen Eliten aus Wirtschaft, Verwaltungen und NS-Organisationen, die das Regime gestützt hatten. Die politische Säuberung der deutschen Gesellschaft durch Entnazifizierungsverfahren dagegen scheiterte. Die Mehrheit der Deutschen lehnten die Verfahren ab und stellte sich stattdessen gegenseitig "Persilscheine" aus. In den 50er-Jahren kam dann die Strafverfolgung von NS-Täterinnen und -Tätern praktisch gänzlich zum Erliegen. Diese fehlende politische und juristische Ahndung führte zu vielfachen (personellen) Kontinuitäten in Politik und Behörden, transportierte die NS-Ideologie in politische Entscheidungen und in den gesellschaftlichen Umgang mit den Verfolgten und ihren Familien. So erlebten beispielsweise Sinti und Roma in Westdeutschland eine Fortsetzung der Diskriminierung, indem unter anderem ihre polizeiliche Überwachung und Erfassung weitergeführt wurde und westdeutsche Juristinnen und Juristen bis 1965 deutsche Sinti und Roma nicht als NS-Verfolgte nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannten und sie damit in weiten Teilen von der Entschädigung ausschlossen. Und erst 1982 anerkannte man hierzulande den Massenmord an den Sinti und Roma als Völkermord. (34)

Bis in die 80er-Jahre hinein verhinderten fehlendes Unrechtsbewusstsein, Abwehr von Schuld und Verantwortung in der Bundesrepublik eine tiefer gehende und breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der NS-Verfolgung, die heute auf den ersten Blick so selbstverständlich erscheint. Der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961, der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-65 (35), die US-amerikanische TV-Serie "Holocaust" 1978 waren wichtige Ereignisse, die eine Auseinandersetzung langsam vorantrieben. Ebenso gelang es den Deutschen in der DDR, mit ihrer antifaschistischen Gründungserzählung eine gesellschaftliche Auseinandersetzung und juristische Aufarbeitung mit dem Nationalsozialismus zu umgehen. Die Verantwortlichkeiten wurden in die kapitalistische Bundesrepublik verschoben: Die DDR war der neue, bessere deutsche Staat der kommunistischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft hatten. (36)

Auch die Entschädigung der NS-Verfolgten war in beiden deutschen Staaten nicht selbstverständlich. Sie musste erkämpft und erzwungen werden, und bis heute gibt es Gruppen Verfolgter, die keine Entschädigung erhalten haben. Immer bestimmten die Ideologien und die wirtschaftliche Situation die Definition der Entschädigungsgesetze, in denen man bewusst viele Menschen von Zahlungen ausschloss. Dazu kamen in der damaligen Bundesrepublik komplizierte Antragstellungen und kurze Antragsfristen. Der Ausschluss gleicher Opfergruppen zeigt, dass Urteile und Werte der NS-Ideologie (natürlich) in beiden deutschen Staaten weiterwirkten. Auch schlossen beide Staaten in vielen Fällen die Entschädigung der ausländischen Verfolgten aus. In der DDR hat es, anders als in der Bundesrepublik, keine Entschädigung der im Ausland lebenden Jüdinnen und Juden gegeben. (37) In den westdeutschen Entschädigungsverfahren, insbesondere in Bezug auf das Gesundheitsschadensrecht des Bundesentschädigungsgesetzes, mussten viele NS-Verfolgte erleben, dass Ärztinnen, Ärzte, Richter und Richterinnen den Zusammenhang zwischen ihren Erkrankungen und der erlittenen Verfolgung hartnäckig und bar jeder Menschlichkeit leugneten und damit eine Entschädigung verhinderten.

Vorerst letzter Erfolg in diesem Kampf um Anerkennung war 1999 der Beginn der Entschädigungszahlung unter anderem an ehemalige Zwangsarbeiterinnen und –arbeiter und Opfer der Arisierungen aus den Geldern der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", die aus Mitteln deutscher Unternehmen, des Bundes und der Länder finanziert wird und nur auf gesellschaftspolitischen Druck hin gegründet wurde. (38)

Die Überlebenden der Verfolgung haben nach 1945 in beiden deutschen Staaten immer wieder Zurückweisung, Diskriminierung und Missachtung erfahren. Die Lebensgeschichten der NS-Verfolgten wurden mehrheitlich lange tabuisiert und beschwiegen. Heute dagegen kennen wir NS-Verfolgte: an Gedenktagen, bei Ausstellungseröffnungen und in Jugendprojekten berichten sie als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von ihren Erfahrungen. Sie übernehmen im kollektiven Gedächtnis Deutschlands inzwischen eine zentrale Rolle in der Erinnerungskultur an die Verfolgung während des Nationalsozialismus. Das Gleiche gilt für die Präventionsarbeit gegen Rassismus, Antisemitismus und Neonazismus. Dennoch warten Männer und Frauen verschiedener Verfolgtengruppen – und ihre Kinder – wie die Sinti und Roma, die Homosexuellen, "Asoziale", die Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten, die Zeugen Jehovas und die Opfer der nationalsozialistischen Militärjustiz noch heute auf ihre gesellschaftliche und/oder rechtliche Anerkennung.