"Man sieht nur, was man weiß" - NS-Verfolgte im Alter

(Andrea Zielke-Nadkarni)

NS-Verfolgte, so glauben viele, sind längst verstorben oder nach Kriegsende emigriert. Tatsächlich aber lebt noch immer eine nur zu schätzende Anzahl von etwa 100.000 verstreut unter uns: Menschen, die verfolgt wurden, weil sie beispielsweise Zeugen Jehovas, Schwule und Lesben, Frauen und Männer der Sinti und Roma, Juden und Jüdinnen sind, Regimegegnerinnen und –gegner oder Deserteure waren oder als "lebensunwert" und "asozial" im Sinn der NS-Rasse- und Gesundheitspolitik galten. Auch Christinnen und Christen wurden verfolgt, wenn sie ihren religiösen Grundsätzen entsprechend handelten und damit gegen das Regime standen. Eine weitere Gruppe sind die jüdischen Migrantinnen und Migranten aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Seit Januar 1991 ist ihnen die Auswanderung nach Deutschland ermöglicht worden, indem ihnen ein Sonderstatus als sogenannte Kontingentflüchtlinge zugebilligt wurde. Dies hatte die Einwanderung von rund 100.000 Personen zur Folge (1), eine beachtliche Zahl, bedenkt man, dass bis 1989 nur etwa 30.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger in Deutschland lebten. Wenngleich viele von ihnen von den verschiedenen sowjetischen Regimes diskriminiert und verfolgt wurden, muss man davon ausgehen, dass unter den über 60-Jährigen viele Überlebende der Shoah sind.

Unerkannt tragen - neben dieser größeren Gruppe - viele aus anderen Gründen Verfolgte die (biografische) Last der Trauma-Erfahrung im Alter. In dieser Lebensphase wird man dünnhäutiger, die "seelischen Abwehrkräfte" lassen nach, und die zunehmenden körperlichen Beschwerden führen zu Hilfsbedürftigkeit, die die Frage nach pflegerischer Unterstützung akut werden lässt. In den westlichen Industriegesellschaften haben alte Menschen tendenziell einen niedrigen Sozialstatus und leben häufig isoliert. Bei NS-Verfolgten kommen zu den "normalen" Erschwernissen im Alter ihre Traumata und die massive soziale Meidung der NS-Verfolgungsthematik zusätzlich als isolierende Faktoren hinzu. Sie alle sind durch ähnliche Erlebnisse geprägt und haben im Alter häufig Angst vor dem Kontakt mit der Generation der Täter und Täterinnen, zum Beispiel vor dem Zimmernachbarn im Altenpflegeheim oder der Tischnachbarin im Speisesaal der Kurklinik, die vielleicht alte Nazis, Sympathisanten oder Sympathisantinnen sind.

Die gesamte Gruppe der NS-Verfolgten tritt im deutschsprachigen Raum in pflegetheoretischen Abhandlungen und in der (Alten-)Pflegeausbildung bislang kaum in Erscheinung. Damit befindet sich die Pflege in "guter Gesellschaft", denn Forschungen zur Situation von NS-Verfolgten, in erster Linie Überlebende der Shoah, wurden erst ab den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts betrieben, vor allem in den USA, wo rund sechs Millionen jüdische Bürgerinnen und Bürger leben, gefolgt von Kanada, Großbritannien und Israel. Für die pflegerische Versorgung der in Europa lebenden Menschen mit Verfolgungserfahrungen aus der NS-Zeit bestehen dagegen ausgeprägte Forschungslücken, was besonders tragisch ist, da hier die ehemals Verfolgten in den Gesellschaften der Täter und Täterinnen leben müssen.

Mit unserem Text möchten wir einen Einblick in die Lebenserfahrungen der Betroffenen geben, denn immer wieder wurde uns auf öffentlichen Veranstaltungen zu diesem Thema deutlich, dass das "Dritte Reich" für Altenpflegeschülerinnen und –schüler heute sehr weit weg ist von ihrer Gegenwart. Häufig ist ihnen nicht bewusst, dass eine Verbindung zwischen dieser für Deutschland so unrühmlichen Zeit und ihrer eigenen Arbeit mit den Menschen, die sie pflegen, besteht. Andererseits haben wir aber auch erlebt, dass gerade sie für dieses Thema besonders offen sind, denn der zeitliche Abstand zur Nazizeit erleichtert es, sich dem schwierigen Thema zu nähern. Auch haben die Schülerinnen und Schüler andere, weniger abhängige Beziehungen zu den involvierten Großeltern, worin wiederum eine Chance liegt, dieses Thema offener ins aktuelle Berufsleben zu transportieren.

Um aufzuzeigen, wie differenziert die Situation bei aller Gemeinsamkeit dennoch ist, haben wir nach Interviewpartnerinnen und –partnern gesucht, die die große Bandbreite der Verfolgungsgründe repräsentieren: So sind Fanny T., Lily P. und Chana G. Jüdinnen, Paul S. war Deserteur, Karl D. wurde als "erbkrankes" Kind mit der Pseudodiagnose "Debilitis und Psychopathie" in die Psychiatrie eingewiesen, Ryszard K. und Milan B. waren polnische Zwangsarbeiter, Josefa O. und Rosa M. sind Sintessa.

Diese Menschen, die durch Alterserkrankungen pflegebedürftig sind oder zu werden drohen, bilden aufgrund ihrer Verfolgungs- und Diskriminierungserfahrungen eine besonders verletzliche Gruppe, die erhöhte und sehr spezielle Pflegeanforderungen stellt. Sie soll daher hier zu Wort kommen.

Die Interviews, die wir mit den NS-Verfolgten geführt haben, haben wir zu Geschichten umformuliert, die jedoch zahlreiche authentische Ausschnitte aus den Interviews enthalten. Zu jedem Erzähltext wurden Vorschläge für eine Bearbeitung im Unterricht in der Altenpflegeausbildung entwickelt. Die Didaktisierung spezieller Themen aus den einzelnen Geschichten wird verbunden mit Forschungsergebnissen aus dem internationalen Raum und dem soziohistorischen Hintergrund. Dieses Vorgehen verbindet authentisches Interviewmaterial mit historischen Fakten und personenübergreifenden Kenntnissen über die Situation dieses Personenkreises, bezogen auf seine Pflegebedürfnisse.

Den authentischen Erzähltexten vorangestellt ist eine historische Darstellung über Verfolgung im "Dritten Reich", die nicht auf Vollständigkeit abzielt, sondern den Zusammenhang zwischen der Zeitgeschichte und der einzelnen Biografie herstellen möchte.

Im Anschluss an die biografischen Erzählungen und die Didaktisierungen folgt ein Menüpunkt zum Thema Trauma, in dem zunächst der Begriff des Traumas näher definiert wird, um daran anschließend die gesundheitlichen Auswirkungen von Traumatisierungen zu beschreiben. In zwei weiteren Beiträgen werden die möglichen Auswirkungen der Traumatisierungen auf das Leben im Alter und bei Pflegebedürftigkeit sowie Wege des Umgangs mit diesen Menschen aufgezeigt. Diese Menüpunkte stehen weiter unten, weil sich die Altenpflegeschülerinnen und –schüler zunächst einmal mit den Biografien der NS-Verfolgten als solchen und mit ihren eigenen Gefühlen und Erfahrungen in diesem Rahmen auseinandersetzen sollen, ehe sie mit weiteren Sachinformationen, die wiederum von anderen stammen, zu möglichen Lösungen geführt werden. Denn über die eigenen Emotionen und Gedanken kann ein persönlicher Zugang zur Problematik geschaffen werden. Hierzu tragen auch die vielen, in den Didaktisierungsvorschlägen angeregten Diskussionen bei. Die Tabuisierung durch die Betroffenen selbst ist, wie die Texte zeigen, gut begründet. Gleichzeitig ist auch die Generation der Täter und Täterinnen Klientel der Altenhilfe bzw. -pflege. Diese Bedingungen sowie die historische Ferne der auslösenden Ereignisse für viele Pflegepersonen bewirken ein unheilvolles Schweigen und eine innere Distanzierung von diesen Vorgängen und ihren Folgen, die über den gewählten methodischen Weg durchbrochen werden können.