Behinderung, Krankheit und Euthanasie im Nationalsozialismus

Nachrufe 2010

Die Verbrechen an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen wurden in der Regel von Ärzten und Ärztinnen sowie Schwestern, Pflegern und Verwaltungsangestellten begangen. Ihr Mitwirken war zumeist freiwillig. Auch nach Ende des Nationalsozialismus, sowohl direkt in den Nachkriegsprozessen als auch viele Jahrzehnte später, äußerten sie zumeist keine Reue. Im Folgenden findet ihr drei Texte, die im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt waren und sich aufeinander beziehen: einen Nachruf, eine Gegendarstellung zum Nachruf und eine Reaktion auf die Gegendarstellung. Sie sind Teil einer Auseinandersetzung im Jahr 2010 über die Rolle eines Arztes während des Nationalsozialismus.

Fragen zu den Nachrufen:

  1. Bildet drei Gruppen und lest jeweils einen der drei Texte. Sprecht in der Kleingruppe über euren Text. Erzählt anschließend den anderen beiden Gruppen, was in dem Text besonders hervorgehoben und was nicht erwähnt wurde, euch aber interessiert hätte. Welche Tätigkeiten werden in dem Nachruf, in der Gegendarstellung und in der Reaktion auf die Gegendarstellung betont, zu welchen Tätigkeiten oder Jahren wird wenig gesagt?
  2. Überlegt gemeinsam, warum Prof. Dr. Sewering und auch andere Tatbeteiligte keine Reue zeigten. Schreibt die Überlegungen stichwortartig auf Kärtchen und heftet sie an eine Pinnwand.
  3. Was für einen Nachruf hätten Angehörige von Opfern für Prof. Dr. Sewering geschrieben? Schreibt, jede und jeder für sich, einen kurzen Entwurf. Wer möchte, kann ihn vorlesen.

 

Text: 1. Ärzteschaft trauert : Nachruf

Die Ärzteschaft trauert um Prof. Dr. med. Dr. h. c. Hans Joachim Sewering, der am 18. Juni im Alter von 94 Jahren verstorben ist. Der Internist für Lungen- und Bronchialheilkunde war Arzt aus Berufung, mit menschlichem Verständnis und nicht bloß "Mediziner". Mehr als fünf Jahrzehnte lang hat er sich über seine ärztliche Tätigkeit hinaus für die Belange der Ärzteschaft und für eine gute Versorgung der Patienten eingesetzt.
Nach der Schulausbildung studierte Hans Joachim Sewering in München und Wien Medizin und ließ sich nach Staatsexamen, Promotion und anschließender Tätigkeit als Arzt im Krankenhaus 1947 in Dachau in eigener Praxis nieder. Er wurde bereits 1951 in den Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns gewählt, deren Vorstandsvorsitzender er von 1972 bis 1992 war. (…)
Von 1955 bis 1991 war Sewering Präsident der Bayerischen Landesärztekammer und Mitglied des Vorstands der Bundesärztekammer, von 1959 bis 1973 deren Vizepräsident, von 1973 bis 1978 Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages. 1991 wurde er nach 36-jähriger Mitwirkung im Vorstand der Bundesärztekammer zu dessen Ehrenmitglied gewählt.
Bereits in den 50er Jahren hat Sewering maßgebliche Reformvorstellungen in die Approbationsordnung für Ärzte eingebracht, wie die Ausbildung in kleinen Gruppen am Krankenbett und das ständige Gespräch zwischen Lehrenden und Lernenden zur Überprüfung des Wissenstandes. (…) Die ärztliche Tätigkeit sah er stets eingebettet in das soziale Sicherungssystem und den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat. Hervorzuheben sind seine Initiativen zum Ausbau der Vorsorgemedizin als auch der programmierten Nachsorge sowie zur Qualitätssicherung. Auf seine Anregung wurden in allen Landesärztekammern Gutachterkommissionen oder Schlichtungsstellen gebildet, die bei Verdacht auf ärztliche Behandlungsfehler angerufen werden können. In der Bundesärztekammer richtete er die Abteilung Fortbildung und Wissenschaft ein.
(…) In zahlreichen Veröffentlichungen hat Sewering, Honorarprofessor für Sozialmedizin und ärztliche Rechts- und Berufskunde, zu medizinisch-wissenschaftlichen, gesundheits- und sozialpolitischen Themen Stellung genommen. Die Technische Universität München verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. Neben zahlreichen weiteren Ehrungen erhielt er 1992 die Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft.
Hans Joachim Sewering vereinte politisches Gespür mit Intelligenz, Fantasie und Realitätssinn. Mit Überzeugungskraft, genauem Aktenstudium und immensem Fleiß, Beständigkeit und Verlässlichkeit hat er das Vertrauen bei Partnern und sogar Kontrahenten erworben. Stets an der Sache orientiert, hat er sich um den Erhalt eines freiheitlichen Gesundheitswesens und um die Wahrung ethischer Normen ärztlichen Handelns verdient gemacht.
Prof. Dr. med. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Karsten Vilmar

Text: 2. Gegendarstellung zum Nachruf von Prof. Dr. Hoppe und Prof. Dr. Vilmar

Sehr geehrter Herr Prof. Hoppe, sehr geehrter Herr Prof. Vilmar,
der Nachruf auf Hans Joachim Sewering im Deutschen Ärzteblatt enthält keinen Hinweis auf die Rolle, die er als Arzt in der Zeit des Nationalsozialismus gespielt hat. Angesichts der Bemühungen der Bundesärztekammer, zu einer Aufarbeitung der Medizin im Nationalsozialismus beizutragen und den Opfern der nationalsozialistischen Medizinverbrechen gegenüber historische Verantwortung zu übernehmen, ist das Verschweigen der NS-Vergangenheit Sewerings schwer nachvollziehbar. Den Unterzeichnenden ist daher die folgende Ergänzung historischer Fakten wichtig.
Hans Joachim Sewering war, wie durch medizinhistorische Arbeiten seit langem belegt ist, Mitglied der SS seit 1933 und der NSDAP seit 1934. 1942 wurde er Assistenzarzt des Tuberkulosekrankenhauses in Schönbrunn bei Dachau und betreute zugleich die verbliebenen Pfleglinge der Associationsanstalt der Franziskanerinnen, in deren Gebäuden das Tuberkulosekrankenhaus eingerichtet worden war. Zwischen Juni 1943 und Februar 1945 tragen mindestens neun Einweisungen in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, deren zentrale Rolle für die „Euthanasie“-Morde in Oberbayern damals in weiten Kreisen bekannt war, seine Unterschrift. Fünf der verlegten Patienten und Patientinnen starben in Eglfing-Haar entweder in der Kinderfachabteilung oder aber im Rahmen der Hungereuthanasie, unter ihnen die 14-jährige Babette Fröwis, die nach Sewerings ärztlichem Zeugnis aufgrund ihrer Unruhe nicht mehr für Schönbrunn geeignet erschien. Anfang der 1990er Jahre versuchte Professor Sewering, die Verantwortung für diese Verlegung den Nonnen von Schönbrunn aufzubürden.
Unabhängig davon, wie man Sewerings Handlungsweise in Schönbrunn rechtlich oder moralisch bewertet, so ist es der Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen, der zu Beginn der 1990er Jahre, als Sewerings Verwicklung in die NS-„Euthanasie“ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, unangemessen erscheinen musste. Für Sewering stand damals viel auf dem Spiel, nämlich seine Position als designierter Präsident des Weltärztebundes, auf die er aufgrund internationaler Proteste dann doch verzichten musste. Ein Wort des Bedauerns über das Geschehene wäre zu diesem Zeitpunkt nicht zuviel gewesen.
Aus diesem Grunde können die abschließenden Worte des Nachrufs, nämlich dass Hans Joachim Sewering sich um die Wahrung ethischer Normen ärztlichen Handelns verdient gemacht habe, doch nur eine beschränkte Geltung beanspruchen. Hierzu gehört unserer Auffassung nach auch die Übernahme historischer Verantwortung gegenüber den Opfern der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Verbrechen und ihren Angehörigen durch die deutsche Ärzteschaft. In diesem Sinne kann die Unvollständigkeit des Nachrufs auf Professor Sewering als Rückschritt angesehen werden.
Die unterzeichnenden Ärztinnen und Ärzte, Medizinhistoriker/innen, Wissenschaftshistoriker/innen und Psychotherapeut/innen möchten Sie, sehr geehrter Herr Prof. Hoppe und sehr geehrter Herr Prof. Vilmar, bestärken, die historische Aufarbeitung der Medizinverbrechen und der Rolle der Medizin im Nationalsozialismus und ihrer Nachwirkungen nach 1945 weiter zu fördern und voranzubringen. In diesem Sinne stehen wir Ihnen, ohne persönlich anklagen oder verurteilen zu wollen, aber doch um Offenlegung der historischen Fakten bemüht, vonseiten der professionellen Medizingeschichte gerne zur Verfügung.
PD Dr. med. Gerrit Hohendorf, sowie viele weitere Unterzeichner/innen

Text: 3. Reaktion auf die Gegendarstellung

Die Kritik, die der Nachruf auf Prof. Dr. med. Hans-Joachim Sewering bei Medizinhistorikern, Lesern und in den Medien gefunden hat, macht einige Anmerkungen erforderlich: Das Deutsche Ärzteblatt hat über den Tod Sewerings in Heft 26/2010 am 2. Juli 2010 berichtet. In dieser Nachricht wurden, zwei Wochen vor Erscheinen des Nachrufs, auch die Vorwürfe erwähnt, Sewering sei durch Einweisungen in die Heilanstalt Eglfing-Haar in "Euthanasie"-Morde in der Zeit des Nationalsozialismus verstrickt. Über die Recherchen von Historikern und Journalisten zu dem Thema hat das D(eutsche) Ä(rzteblatt) in den vergangenen Jahren mehrfach berichtet.
Als Ergänzung dieser Meldung habe ich Herrn Prof. Dr. med. Karsten Vilmar und Herrn Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, die Nachfolger Sewerings im Amt des Präsidenten der Bundesärztekammer, um eine Würdigung der Verdienste Sewerings in der ärztlichen Berufs- und Standespolitik gebeten. Beide Autoren stehen außerhalb jeglichen Verdachts, die Aufarbeitung der Verbrechen von Ärzten in der NS-Zeit blockieren zu wollen. In Vilmars Amtszeit begann die lange überfällige aktive Beschäftigung mit der Rolle der ärztlichen Körperschaften in der NS-Diktatur. Hoppe hat 2008 bei einer Tagung des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Gießen gesagt, die Erkenntnis „dass Ärztinnen und Ärzte nicht nur weggesehen und geschwiegen haben, sondern aktiv an der systematischen Ermordung von Kranken und sogenannten gesellschaftlichen Randgruppen mitgewirkt haben, ist nicht erträglich“. Eine vollständige Aufarbeitung der Gräuel stehe noch aus. Die Bundesärztekammer (BÄK) hat gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium in diesem Jahr zum dritten Mal einen Forschungspreis für Arbeiten zur Geschichte der Ärzte während der NS-Diktatur ausgeschrieben. Im Auftrag der BÄK arbeitet zudem eine Expertenkommission unter Leitung von Prof. Dr. Robert Jütte, Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart, an einem Forschungsbericht "Medizin und Nationalsozialismus". Zu den Themenfeldern gehören "Euthanasie und Krankenmord", "Menschenversuche" und "Zwangssterilisation". Diese und andere Forschungsarbeiten werden auch ihren Niederschlag im Deutschen Ärzteblatt finden.
Heinz Stüwe, Chefredakteur Deutsches Ärzteblatt


Quellen:
Alle Texte: Deutsches Ärzteblatt 2010, www.aerzteblatt.de (14.09.2010).