Behinderung, Krankheit und Euthanasie im Nationalsozialismus

Nach dem Krieg: Verweigerte Entschädigung für "Euthanasie"-Opfer

Nach dem Ende des "Dritten Reiches" gab es eine Reihe von Prozessen gegen viele Angestellte von Tötungsanstalten und "T4"-Gutachter ("Aktion T4" bezeichnet die erste Phase der Anstaltsmorde). Einige von ihnen bekamen Haftstrafen, andere wurden freigesprochen. Diejenigen, die verurteilt worden waren, wurden meist sehr frühzeitig aus der Haft entlassen. Manche von ihnen übernahmen bald wieder verantwortliche Aufgaben im Bereich der Psychiatrie.

Die "Euthanasie"-Opfer hingegen erhielten nach dem Krieg – und bis heute – keine Entschädigung. Sie galten lange Jahre nicht als Verfolgte des Nationalsozialismus.

Text Bund der "Euthanasie"-Geschädigten:

1987 gründete sich der Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten, eine Opfervereinigung. Er erreichte mehr öffentliches Interesse für die Belange der Opfer und konnte im Laufe der Jahre die rechtliche Situation verbessern.

Selbstdarstellung des Bundes der "Euthanasie"-Geschädigten

Vor der Gründung des Bundes hatten Zwangssterilisierte und "Euthanasie"-Geschädigte keinen Kontakt untereinander. Während der NS-Zeit war es verboten, über das Erlebte zu reden, aber auch nach der Zeit des Nationalsozialismus blieb bei den Opfergruppen diese Isolation.

Situation der Betroffenen heute

Zwangssterilisierte und "Euthanasie"-Geschädigte, die durch den nationalsozialistischen Massenmord an Kranken, Behinderten und sozial Stigmatisierten ihre nächsten Angehörigen verloren haben, gehören zu den ausgegrenzten NS-Opfern und sind bis heute nicht den anerkannten NS-Verfolgten gleichgestellt. Sie tragen zudem schwer an dem Vorurteil, sie selbst oder ihre Familien seien "minderwertig" oder "lebensunwert" gewesen.
Die Opfer der damaligen Zwangsmaßnahmen sind hochbetagt, viele leben sehr zurückgezogen. In Gesprächskreisen versuchen wir, sie aus ihrer Isolation herauszuführen, damit sie untereinander über ihre Probleme reden können. Wir leisten betreuende Hilfe. Bei Anträgen und Behördenangelegenheiten helfen wir und forschen in Archiven nach Beweisunterlagen.
Durch unsere Arbeit haben wir schon vielen Betroffenen helfen können. Falls Ihnen zwangssterilisierte Menschen oder Angehörige von "Euthanasie"-Opfern bekannt sind, weisen Sie bitte auf unseren Bund hin. (26)

Gefühle: Scham und Ausgeliefertsein

Menschen, die unfreiwillig sterilisiert, also unfruchtbar gemacht wurden, fühlten in der Regel eine große Scham. Deshalb verheimlichten sie ihre Sterilisation vor anderen. Der Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten hat viele Interviews geführt, um Aussagen von Opfern zu erhalten. Im folgenden Text schildert ein Mann seine persönlichen Erlebnisse.

Text Anonymer Bericht eines Opfers

"Meine Kinderzeit verlebte ich bei meiner Mutter. Sie hatte sich als junge Frau scheiden lassen. 1937 hatte ich eine Arbeitsstelle in einer Maschinenfabrik. Dort wurde ich sehr ausgenützt, was Folgen hatte. Wochenlang konnte ich nicht richtig schlafen und hatte starke Kopfschmerzen. Am 1. Oktober war ich mit meiner Mutter bei Bekannten zu einer kleinen Feier eingeladen. Das war ein schöner Nachmittag. Wir kamen gegen Mitternacht nach Hause und ich konnte nicht einschlafen. Etwa eine Stunde danach bekam ich plötzlich Herzschmerzen und fast gleichzeitig einen Schüttelfrost. Mutter machte sich sehr große Sorgen und brachte mir erst mal Baldriantropfen. Mein Zustand besserte sich nicht, sondern ich bekam große Angstzustände und dachte, ich müsste sterben. Als meine Mutter merkte, daß sie mich nicht beruhigen konnte, ging sie mit mir zum Arzt in das nahegelegene Heiligengeist-Hospital. Dort wurde ich nicht aufgenommen, sondern in ein weiteres Krankenhaus verlegt. Zwei Tage danach konnte ich erfahren, daß ich mich in der Frankfurter Nervenklinik befand. Meine Mutter wurde beruhigt, und man sagte ihr, daß sie mich bald wieder abholen könnte. Nach der Untersuchung bekam ich ein Beruhigungsmittel, ein Pfleger brachte mich zur Station Nr. 6, wo ich auf einem Feldbett noch ein paar Stunden schlafen konnte. Nachdem es mir wieder besser ging, hoffte ich, bald entlassen zu werden. Am Tag bekam ich dann in dem Saal ein Bett. Es fiel mir auf, daß sich einige Kranke merkwürdig benahmen. (…) Erst als es mir wieder besser ging, ich mich gesund fühlte, merkte ich, daß alle Türen abgeschlossen waren. Ich bat einen Pfleger, mir doch meine Kleider zu bringen, er sagte aber, ich müßte erst behandelt werden und darum noch hier bleiben. Es war sehr schockierend und traurig, daß man mich hier eingesperrt hatte. In der Nacht vom 5. zum 6. Oktober konnte ich nicht schlafen, trotz Schlafmittel. Ich war durstig und wollte zur Toilette gehen. Als ich aufstand und hingehen wollte, lief mir ein Pfleger nach, legte mir von hinten ein Handtuch um den Hals und zog so fest, daß ich fast keine Luft bekam und auf den Rücken fiel. Ein zweiter Pfleger kam dazu, kniete sich auf mich und preßte mir einen Becher mit einer schrecklichen Flüssigkeit an den Mund, die ich austrinken mußte. Dann wurde ich wieder ins Bett gebracht, und am nächsten Tag stand im Pflegebericht: ‚W. hat das Bett eingenäßt’. Nach diesem Erlebnis wurde ich sehr ängstlich und habe mein Bett nur verlassen, wenn ich dazu aufgefordert wurde. (…) Danach bekam ich 23 Insulinschockbehandlungen, die angeblich gut vertragen wurden. Meine Mutter stellte den Antrag, mich zu entlassen. Die Insulinbehandlung wurde dann langsam eingestellt und am 23.12. konnte Mutter mich mit nach Hause nehmen, mußte aber einen Revers unterschreiben.
Der behandelnde Arzt hatte nach diesem Aufenthalt die Sterilisation beantragt. Mutter hat alles versucht, die Sterilisation zu verhindern. Sie hat sogar einen Rechtsanwalt eingeschaltet, der uns beim Erbgesundheitsgericht vertreten hat. Die Verhandlung wurde dann vom Erbgesundheits-Obergericht in Frankfurt entschieden. In dieser Verhandlung wurde unsere Beschwerde gegen den Beschluß zurückgewiesen. Es war nicht daran zu rütteln, ich sollte eine Schizophrenie haben. Nach diesem Urteil schrieb Mutter noch einen Brief an den Reichs- und Preußischen Minister des Inneren, in dem sie darum bat, meine Sterilisation zu unterlassen. Hier bekam sie aber wieder einen abschlägigen Bescheid. Gleichzeitig kam die Aufforderung, daß ich zur Unfruchtbarmachung umgehend in ein Krankenhaus gehen muß. Wir waren sehr enttäuscht, daß es nicht gelungen war, die Sterilisation zu verhindern. Nachdem ich wieder gesund war, hielt ich es für ein Unrecht, daß man mich zu lebenslanger Unfruchtbarkeit verurteilt hat, nur weil ich einmal 83 Tage lang in einer Nervenklinik behandelt wurde. Mit der ärztlichen Diagnose Schizophrenie war ich schon ausreichend bestraft. Das Wertvollste, was ein Mensch außer seinem Leben besitzt, die Möglichkeit, sich fortzupflanzen, wurde mir durch das Urteil genommen. Ich mußte mich damit abfinden. (…)
Im Dritten Reich durfte ich keine gesunde Frau heiraten und habe durch Zufall eine sterilisierte Frau kennengelernt. Wir haben geheiratet, aber die Ehe war nicht gut, und 1948 trennten wir uns wieder. Bald danach lernte ich meine jetzige Frau kennen. Nach geraumer Zeit erzählte ich ihr, daß ich sterilisiert wurde, und zu meiner größten Überraschung berichtete sie, daß auch sie wegen einer Schizophrenie im Dritten Reich unfruchtbar gemacht wurde.
Trotz der damaligen Diagnose Schizophrenie konnte ich mit Gottes Hilfe 46 Jahre, davon 44 Jahre in einer Firma, berufstätig sein. Mit meiner zweiten Frau bin ich nun schon 40 Jahre glücklich verheiratet. Aber die Spuren des Eingriffs haben sich trotz aller Zweisamkeit nicht auslöschen lassen und belasten uns immer wieder aufs neue." (27)

Fragen zum Anonymen Bericht:
  1. Streicht die Textpassagen an, in denen der Mann über seine Gefühle spricht. Versucht eine Geste oder Pose für seine Empfindungen zu finden. Welches Gefühl überwiegt? Könnt ihr euch erklären, warum der Bericht anonym verfasst wurde?
  2. Menschen in den psychiatrischen Einrichtungen fühlten sich in der Regel sehr ausgeliefert. Arbeitet aus dem Text die Schilderungen heraus, die sich auf die Erfahrungen des Mannes in der Nervenklinik Frankfurt beziehen, bevor er zwangsweise sterilisiert wurde.
  3. Schreibt seine Erfahrungen, die ihr mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins verbindet, auf Kärtchen. Analysiert den Ausdruck „sich ausgeliefert fühlen“, schaut euch dazu die einzelnen Teile an. Versucht, das Gegenteil zu definieren. Was, glaubt ihr, musste sich in psychiatrischen Einrichtungen verändern, damit Menschen sich nicht mehr ausgeliefert fühlten?

 

Das Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein

Der Text "Psychiatrie-Reform: Auf halbem Weg stecken geblieben" wurde 2001 im Deutschen Ärzteblatt von Petra Bühring veröffentlicht.

Fragen zum Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein:
  1. Lest zunächst den Text. Streicht dann die Passagen an, in denen in den 1970er Jahren die Zustände in psychiatrischen Großkrankenhäusern kritisiert wurden. Unter welchen Umständen denkt ihr, fühlten sich in den 1970ger Jahren Menschen in der Psychiatrie ausgeliefert? Vergleicht dies mit euren vorherigen Ergebnissen.
  2. Überlegt alle zusammen: Wie ist heute das Leben von Menschen, die eine psychische Erkrankung haben? Wo begegnen sie euch im Alltag? Wie kann es gelingen, dass sie von der Gesellschaft mit Respekt behandelt werden?

 

Text Psychiatrie-Reform: Auf halbem Weg stecken geblieben

Die 1971 vom Deutschen Bundestag eingesetzte Expertenkommission "Psychiatrie-Reform" untersuchte die Zustände in den psychiatrischen Großkrankenhäusern. Sie beklagte katastrophale Zustände: Viele psychisch Kranke und Behinderte lebten damals unter elenden, zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen. Knapp 60 Prozent der Patienten fristeten dort mehr als zwei Jahre ihres Lebens. Fast 40 Prozent waren in Schlafsälen mit mehr als elf Betten untergebracht – für ihre persönlichen Habseligkeiten stand oftmals nur eine Schachtel unter dem Bett zur Verfügung. Die hygienischen Verhältnisse waren unzumutbar, die Personaldecke dünn, Möglichkeiten zur Nachsorge kaum vorhanden.
Prof. Dr. med. Dr. h. c. Heinz Häfner, (…) erinnert sich an seinen Eintritt 1949 als Doktorand auf der Männerstation der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München: "Ich konnte meine Erschütterung kaum verbergen. Einige Männer schrieen laut, rüttelten an der Tür oder bedrängten den Stationsarzt mit Entlassungswünschen. Die Stimmung schwankte zwischen Resignation und Aggression. Zeitweilig konnten die Pfleger den Saal nur mit vorgehaltener Matratze betreten."
(…) Viele chronisch psychisch Kranke leben am Rand der Armutsgrenze. Sozialrechtlich sind sie längst nicht körperlich Kranken gleichgestellt. Am wenigsten verändert hat sich am Verständnis der Gesellschaft für Krankheiten, die nicht sichtbar sind und deshalb bedrohlich wirken, für Menschen, die anders sind. Vor der Psychiatrie-Reform wurde das Andersartige einfach weggeschlossen. Das ist zumindest heute nicht mehr selbstverständlich. (28)

Quellen:
26: euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de/bez_wir-ueber-uns.html (17.09.2010).
27: Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. (Hg.): Ich klage an. Tatsachen- und Erlebnisberichte, Detmold 1989, S. 18-21.
28: www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp (8.9.2010)