Behinderung, Krankheit und Euthanasie im Nationalsozialismus

Jenseits der Trostbriefe: Tatsächliche Umstände der Morde

Der Landeswohlfahrtsverband Hessen ist den Schicksalen der in der Tötungsanstalt Hadamar Ermordeten nachgegangen und hat die wahren Umstände ihres jeweiligen Todes herausgefunden. Als Beispiel findet ihr hier einen Text über die Hintergründe zum Tod von Ernst U., dessen Ehefrau Mathilde den Trostbrief erhielt.

Leben und Ermordung von Ernst U.:

Ernst U., Jahrgang 1899, wurde in Bulmke/Gelsenkirchen geboren und erlernte nach der Volksschule das Bäckerhandwerk. 1923 heiratete er und wurde in den Jahren 1924-1932 Vater von sechs Kindern. 1929 begab sich Ernst U. freiwillig erstmals in ein Krankenhaus und von dort in die Psychiatrische Klinik Bedburg. Nach drei Monaten wurde er wieder entlassen, mußte jedoch im Dezember 1933 erneut in die Psychiatrische Klinik, wahrscheinlich mit der Diagnose "Schizophrenie". Er hatte bis dahin in der Brotfabrik seines Onkels gearbeitet, wo bis 1933 seine Krankheitssymptome noch toleriert worden waren. Ab 1933 blieb Ernst U. in dauernder Anstaltsbehandlung in Bedburg. Seiner Frau wurde mitgeteilt, sie  müsse dieser dauernden Anstaltsunterbringung zustimmen, sonst kämen ihre Kinder in ein Heim. Ernst U. wurde regelmäßig von seinen Verwandten in der Klinik besucht, die Tochter erinnert sich heute noch an die immer weinende Mutter nach solchen Anstaltsbesuchen. Wahrscheinlich wurde er schon 1940 im Rahmen von Verlegungen aus dem Rheinland in eine südhessische Anstalt verlegt. Anfang 1941 ahnt er Schlimmes: er schrieb seiner Mutter und bat um Abholung aus der Anstalt, und kurz darauf schrieb er seiner Frau eine Karte mit der dringenden Bitte um Besuch. Die Karte trug den Stempel "Besuche nicht erwünscht". Ende März erhielt seine Frau die Nachricht von seinem Tod. In einem langen Trostbrief wurde ihr mitgeteilt, er sei am 13. März 1941 nach Hadamar verlegt worden und dort am 24. März "plötzlich und unerwartet" an einer "akuten Hirnhautentzündung" verstorben. Ernst U. wurde tatsächlich in der Gaskammer von Hadamar ermordet.

Trostbrief:

© Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.), Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS "Euthanasie"-Anstalt, 2. Aufl., Kassel 1994, S. 108. Mit freundlicher Genehmigung des LWV-Archivs


Fragen zum Text "Leben und Ermordung von Ernst U".:

  1. Vergleicht gemeinsam die Angaben im Trostbrief mit dem Bericht des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Überlegt, welche Funktionen die Trostbriefe hatten. Könnt ihr euch vorstellen, wie sich die Angehörigen fühlten, wenn sie solch einen Brief erhielten? Wie werden sie sich verhalten haben?

 

Zur Struktur und Funktion der Trostbriefe (H. Friedländer):

"Der erste Absatz des Trostbriefes benachrichtigte die Angehörigen über den Tod des Patienten. Ein Brief aus Grafeneck begann folgendermaßen: 'Es tut uns aufrichtig leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihre Tochter (…) plötzlich und unerwartet an einer Hirnschwellung verstorben ist.' Gelegentlich wurde eine Standardphrase hinzugefügt, die andeuten sollte, daß das medizinisch Machbare versucht worden sei. So endete beispielsweise der erste Absatz eines Briefes aus Brandenburg mit folgendem Satz: 'Es gelang uns trotz aller ärztlichen Bemühungen nicht, Ihren Mann am Leben zu erhalten.' Und in einem Brief aus Hartheim heißt es: 'Eine ärztliche Hilfe war leider nicht mehr möglich.' Der zweite Absatz des Trostbriefes sollte die Verwandten beruhigen. Er erwähnte die Argumente, die durch die offizielle Euthanasiepropaganda bereits populär gemacht worden waren. Der oben zitierte Brief aus Brandenburg enthielt folgenden Abschnitt: 'Da jedoch bei der Art und Schwere des Leidens Ihres Mannes mit einer Besserung (…) nicht mehr zu rechnen war, kann man seinen Tod, der ihn von seinen Leiden befreite (…), nur als Erlösung für ihn ansehen.' (…) In einer anderen Version heißt es: 'Er ist ruhig und ohne Schmerzen gestorben. Bei seiner schweren unheilbaren Krankheit war sein Tod für ihn eine Erlösung.' (…)
Im dritten Absatz ging es um den Verbleib der sterblichen Überreste. Im Normalfall konnte man von einer Anstalt erwarten, daß sie den Angehörigen den Leichnam des oder der Verstorbenen zur Bestattung überstellte. Hier jedoch war es unmöglich, die Körper der Ermordeten an ihre Familien zurückzugeben, weil sonst die Angehörigen und die Ärzte ihres Vertrauens die wirkliche Todesursache hätten feststellen können. Die Mordzentren teilten daher den Angehörigen mit, die Leiche habe 'aus seuchenpolizeilichen Gründen' eingeäschert werden müssen. (…)
Der letzte Teil des Trostbriefes behandelte schließlich bürokratische Einzelheiten. Man bot die Übersendung einer Urne mit der Asche (…) an und bat um eine Antwort der Angehörigen innerhalb von 14 Tagen. (…) Wenn die Angehörigen darauf nicht reagierten, kam die Urne in irgendein Massengrab im Mordzentrum. (…) Weiterhin hieß es in dem Brief, man werde den Angehörigen Wertgegenstände und Erinnerungsstücke übersenden, die Kleidung aber habe man der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt übergeben, da sie bei der Desinfektion beschädigt worden sei. Tatsächlich jedoch eigneten sich die Mordzentren diese Besitztümer häufig unrechtmäßig an. So wurden Mitarbeiter für ihre Leistungen beim Massenmord häufig mit Kleidungsstücken belohnt. Schließlich schreckte der Brief ein weiteres Mal vor Besuchen ab: Um Ansteckung zu vermeiden, hieß es, müssten alle Anfragen schriftlich erfolgen."

Fragen zum Text von Friedländer:

  1. Der Historiker Henry Friedländer hat Trostbriefe aus Tötungsanstalten wie Hadamar analysiert, um die dahinter stehende Absicht zu beschreiben. Lest Friedländers Beschreibung und vergleicht seine Erkenntnisse über die Trostbriefe mit euren Gedanken. Was habt ihr ähnlich beurteilt, was anders?
  2. Wie würdet ihr die Aufgaben der Verwaltung im Rahmen der "Aktion T4" beurteilen? Haben sich die Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter durch ihre Mitarbeit schuldig gemacht? Wenn ja, wodurch?


Quellen:
Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.): Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS-"Euthanasie"-Anstalt, 3. Aufl. Kassel 2002, S. 107
Friedländer, Henry: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, S. 180-183