Nationalsozialismus (1933 bis 1945)

Der "Rassegedanke"

Zwischen 1933 und 1945 änderte sich wenig an den Haltungen und Gesetzen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden waren. Jedoch änderten sich nach der Wahl der NSDAP zur stärksten Partei die Auslegung von Gesetzestexten und ihre Anwendung. Vor allem aber wurden ab 1933 systematisch nur die Haltungen, Einrichtungen, Forschungen, Bücher und öffentlichen Diskussionen unterstützt, die dem sogenannten"„Rassegedanken" entsprachen. Alle anderen Positionen wurden für unerwünscht erklärt. Dieser sogenannte "Rassegedanke" teilte Menschen ohne deren Beteiligung und nach willkürlichen Kriterien in "gut" oder "schlecht" ein. Diese Einteilung entschied häufig darüber, ob die Menschen das Recht hatten (frei) zu leben oder ob sie eingesperrt, zwangsweise sterilisiert oder sogar getötet wurden.

Die willkürliche Einteilung von Menschen

Die Menschen wurden im nationalsozialistischen System von anderen Menschen, beispielsweise Juristen oder Ärzten in Gruppen eingeteilt. Zu welcher Gruppe man gehörte, wurde nicht aufgrund von Fakten entschieden, sondern anhand von Annahmen der einteilenden über die Herkunft, über Familienmitglieder, Hautfarbe, Religion, Sprache, das Aussehen, den Körper, die finanziellen Verhältnisse, das Verhalten oder die sexuelle Orientierung. Je nachdem, welche Attribute Menschen zugeordnet wurden, kamen unterschiedliche Folgen auf sie zu: Wurden Menschen mit der jüdischen Religion in Verbindung gebracht, beispielsweise weil sie ein Familienmitglied hatten, das der jüdischen Religion angehörte, wurden sie fast immer in Konzentrationslager gesperrt und getötet. Galten Menschen als arm und gleichzeitig krank, wurden sie häufig in Heime oder Krankenhäuser eingewiesen. Dort wurden viele von ihnen gegen ihren Willen mit schmerzhaften Methoden behandelt, zwangsweise unfruchtbar gemacht und getötet.

Ärzte und Ärztinnen entscheiden über Menschen

Meist legten Medizinerinnen und Mediziner diese Auslese-Kriterien fest und ordneten zu, wer diesen entsprach. Die Betroffenen hatten keinerlei Mitspracherecht und die Kriterien wurden willkürlich angewendet. So entschieden Mediziner und Medizinerinnen, wer für die Gesellschaft "nützlich" und wer "schädlich" oder "lebensunwert" war und vernichtet werden sollte. Beispielsweise wurden die im Krieg verletzten nichtjüdischen Soldaten als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft betrachtet und vom Staat mit Geld unterstützt. Menschen hingegen, die aus armen Familien stammten und deren Verletzungen nicht vom Krieg herrührten, wurden als "minderwertig" eingestuft. In armen Familien konnten nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (von 1933 sowie seinen späteren Durchführungsverordnungen) schon Kinder unfruchtbar gemacht werden.

"Erbgesundheitsgesetz" und erzwungene Sterilisationen

Mit dem Erbgesundheitsgesetz (1933) wurde der Begriff "Erbkrankheit" eingeführt. Mediziner und Medizinerinnen definierten nach Belieben, wer "erbkrank" war. Bereits eine Seh- oder Hörbehinderung konnte als erblich eingestuft werden und zur Zwangssterilisation der betroffenen Person führen. Mit diesem Gesetz begann die vollständige Entrechtung von Menschen mit Behinderungen. Aber auch andere Bevölkerungsgruppen, wie die der Sinti und Roma, wurden als krank bezeichnet. Viele Frauen und Männer wurden auf dieser Grundlage Opfer von Zwangssterilisationen. Historiker und Historikerinnen schätzen, dass im sogenannten "Euthanasieprogramm" des Nationalsozialismus 200.000 Menschen getötet und ca. 400.000 Menschen zwangssterilisiert wurden. Die unfreiwilligen Sterilisationen hatten für die Betroffenen schwere gesundheitliche Schäden und große seelische Verletzungen zur Folge.

Wie war dieses Unrecht möglich?

Durchsetzen konnte sich diese Politik gegenüber Menschen mit Behinderungen aufgrund verschiedener Faktoren: Zum einen war es schon viele Jahre vorher üblich gewesen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen in Anstalten und Heimen unterzubringen, sodass Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen im Alltag keinen Kontakt miteinander hatten. Dadurch wussten viele Leute wenig über Behinderung und Krankheit, und das Wenige waren vor allem negative Dinge. Auch die Einteilung von Menschen in "gut und gesund" oder "krank und schlecht", in "arbeitsfähig und tüchtig" oder "arbeitsunfähig und faul" mit der entsprechenden Bewertung hatte sich bereits vor 1933 in weiten Teilen der Bevölkerung durchgesetzt. Zudem wurden Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten als fürsorgebedürftig und nicht als gleichberechtigt und ernst zu nehmend betrachtet. Diese weit verbreitete Haltung war ein Grund dafür, dass selbst Angehörige von Menschen mit Behinderungen selten versuchten, gegen die menschenunwürdige Behandlung ihrer Angehörigen zu protestieren. Mit dieser Haltung sahen sich auch diejenigen konfrontiert, die nach 1945 um eine Entschädigung für das erlittene Unrecht kämpften.

Weitere Informationen, Bilder und Übungen zu diesem Thema findest du unter "Behinderung, Krankheit und Euthanasie im Nationalsozialismus".