Nachkriegsdeutschland

Nachkriegsdeutschland, BRD und DDR zwischen 1945 bis 1994

Umgang mit nationalsozialistischen Gesetzen und Urteilen nach dem Ende des Nationalsozialismus (ab 1945)

Die Zeit des Nationalsozialismus endete mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945. Nun stellte sich in Deutschland die Frage, ob die 1933 erlassenen "Gesetze zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" weiterhin gelten sollten. Dazu gehörte auch das Zwangssterilisationsgesetz. In der amerikanischen, der britischen und der französischen Besatzungszone blieben die Gesetze im Wesentlichen unangetastet. Zwangssterilisationen fanden jedoch nicht mehr statt. Erst am 24. Mai 2007 konnte der Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten erreichen, dass der Bundestag die nationalsozialistischen "Gesetze zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" als von Anfang an nicht mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vereinbar und deshalb ungültig erklärte. In der sowjetischen Besatzungszone hob die Militärverwaltung die Regelung zur Zwangssterilisation als "nazistisches" Gesetz bereits im Januar 1946 auf. Die Urteile der nationalsozialistischen "Erbgesundheitsgerichte" hingegen wurden in beiden Teilen Deutschlands übernommen. Auch die Sozialämter in der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland übernahmen die bereits vor 1945 angelegten Akten über die Menschen, die als sozial auffällig, verarmt, krank oder behindert galten. Die dort festgehaltenen menschenverachtenden Beurteilungen und rassistischen Entscheidungen bildeten häufig die Grundlage für weitere Entscheidungen und Beurteilungen der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter in den zuständigen Ämtern. Auf solchen und vielen anderen Wegen konnte sich Unrecht auch nach dem Nationalsozialismus fortsetzten.

Der Nürnberger Ärzteprozess und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Von 1946 bis 1947 fand in Nürnberg ein Prozess gegen einige ausgewählte Ärzte statt, die in der Zeit des Nationalsozialismus tätig gewesen waren, der sogenannte "Nürnberger Ärzteprozess". Angeklagt waren hauptsächlich ehemalige KZ-Ärzte. Die Angeklagten hatten unter anderem an den Tötungen im Rahmen des "Euthanasieprogramms" oder an Menschenversuchen mitgewirkt. Zahlreiche weitere Verantwortliche aus der Verwaltung und der Pflege sowie weitere Ärzte und Ärztinnen wurden hingegen nicht angeklagt. Der Nürnberger Ärzteprozess löste weltweit großes Entsetzen aus. Durch ihn kamen viele Details der nationalsozialistischen Verbrechen an die Öffentlichkeit. Dadurch hatte die ganze Welt das unglaubliche Ausmaß des im Nationalsozialismus begangenen Unrechts deutlich vor Augen.

Zeitgleich fanden die Verhandlungen der 1945 gegründeten Vereinten Nationen über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte statt. 1948 einigten sich 48 Staaten auf den Text der Erklärung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist eine Reaktion auf "die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte, die zu Akten der Barbarei geführt haben" (Präambel). In ihr ist festgehalten, dass alle Menschen angeborene Würde sowie gleiche und unveräußerliche Rechte haben, die geschützt werden müssen. Menschen mit Behinderungen wurden allerdings in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht erwähnt. In der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 1990 in Kraft trat, wurden zum ersten Mal ausdrücklich Kinder mit Behinderungen berücksichtigt.

Der "Wiedergutmachungsausschuss"

Die Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen blieb in den Nachkriegsjahren weiterhin zwiespältig. Im Mittelpunkt standen Fürsorge, medizinische Maßnahmen und die Sortierung nach dem Kriterium der Arbeitsfähigkeit. Auch haben viele der Menschen, die aufgrund von Behinderungen oder Krankheiten während des Nationalsozialismus verfolgt und verletzt wurden, bis heute keine staatliche Entschädigung bekommen. In der Bundesrepublik Deutschland lehnten Gutachter und Gutachterinnen in den 60er-Jahren solche Zahlungen im sogenannten "Wiedergutmachungsausschuss" des Bundestages ab. Als Begründung gaben sie an, dass ein neues Sterilisationsgesetz in den kommenden Jahren wahrscheinlich und sinnvoll sei und auch in der Bevölkerung breite Zustimmung finden werde. Aus diesem Grund sei es widersinnig, bereits durchgeführte Zwangssterilisationen als Unrecht anzuerkennen und die Betroffenen zu entschädigen.

In der DDR und der Bundesrepublik entwickelten sich in den folgenden Jahren die Gesetze und Haltungen gegenüber Menschen mit Behinderungen unterschiedlich:

Deutsche Demokratische Republik (DDR)

In der DDR stand die Teilhabe am Arbeitsmarkt im Vordergrund und wurde gefördert. So viele Menschen mit Behinderungen wie möglich sollten in staatlichen Betrieben arbeiten. Die Menschen, die nicht dort arbeiten konnten, waren auf Pflegeheime angewiesen. Kinder mit Behinderungen wurden in Sonderschulen unterrichtet. Kinder, die aufgrund einer Körperbehinderung dort unterrichtet wurden, konnten mit guten schulischen Leistungen jedoch den auch Zugang zur Hochschule erreichen. War dies nicht möglich, wurden sie in schlecht ausgestatteten Pflegeheimen untergebracht. Ihre Eltern sollten arbeiten gehen können. Menschen mit Behinderungen und Eltern von Kindern mit Behinderungen hatten wenige Möglichkeiten, auf sich und ihre Situation aufmerksam zu machen. Sie hatten in der DDR allerdings weit weniger mit finanziellen Sorgen zu kämpfen als in der Bundesrepublik. Nach der Wiedervereinigung 1990 wurden deutlich mehr Gesetze, die sich auf Menschen mit Behinderungen bezogen, aus der Bundesrepublik übernommen als aus der DDR. Gleiches gilt für Schulsysteme und Ansätze der Behindertenrechtsbewegung.

Bundesrepublik Deutschland

In der Bundesrepublik konzentrierte sich die Behindertenpolitik zunächst auf die Versorgung der kriegs- und arbeitsverletzten Menschen. Die Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit stand im Zentrum der Fördermaßnahmen (Gesetz über die Beschäftigung Schwerbehinderter, 1953). In den 60er-Jahren änderte sich allmählich die Gesetzgebung. Hilfe für Menschen mit Behinderungen war nicht mehr eine reine Armenhilfe, sondern wurde ein Rechtsanspruch. Dennoch wurde erst 1974 das Schwerbehindertengesetz so geändert, dass zum ersten Mal staatliche Unterstützungsleistungen nicht mehr von der Ursache, der Art und dem Umfang der Behinderung abhingen. 1986 wurde in einem zweiten Schritt die Beurteilung der Behinderung verändert: Statt nach dem "Grad der Erwerbsminderung" wurde nun nach dem "Grad der Behinderung" eingestuft. Dies bedeutete, dass nicht mehr alleine die Frage nach der Leistungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt im Zentrum der Beurteilung stand, sondern auch individuelle und soziale Aspekte einbezogen wurden.

Von Beginn an wurde in der Bundesrepublik an die bereits vor dem Krieg bestehenden Strukturen der Werkstätten, Sonderschulen und Berufsförderwerke angeknüpft und diese wurden ausgebaut. Durch dieses besondere Bildungs- und Arbeitssystem gab es nur wenig Kontakt zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen. Für Menschen mit Behinderungen war es sehr schwierig, aus diesen Spezialstrukturen in eine Ausbildung oder an eine Hochschule zu wechseln. Daher hatten sie weniger Bildungsmöglichkeiten und erhielten anschließend weniger Geld für ihre Arbeit.

In den 60er-Jahren gründeten Eltern von Kindern mit Behinderungen erste Selbsthilfeorganisationen, beispielsweise "Aktion Sorgenkind" (heute "Aktion Mensch"). Durch Spendenkampagnen konnte Kindern, die bis dahin als "nicht bildungsfähig" galten, eine bessere Bildung ermöglicht werden. Einige Behinderteneinrichtungen konnten durch Spendengelder besser ausgestattet werden. Gleichzeitig verfestigte sich jedoch auch durch solche Kampagnen die Ansicht vieler Leute, Menschen mit Behinderungen seien krank, zu bemitleiden und vorwiegend medizinisch zu behandeln.

Die Behindertenrechtsbewegung erkämpft Veränderungen

Die wichtigsten Veränderungen erkämpften in der Bundesrepublik vor allem Menschen mit Behinderungen selbst. Bereits in den 70er-Jahren begannen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, sich aktiv gegen ihre ständige Ausgrenzung und Bevormundung zu wehren. In Bremen traten Menschen in einen Hungerstreik. Sie forderten: auch Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, müssen Zugang zu Bus und Bahn haben. In Dortmund fand 1981 ein großes Treffen von Menschen mit Behinderungen statt. Frauen und Männer aus verschiedenen Behindertenselbsthilfe-Vereinigungen thematisierten ihre Aussonderung und Diskriminierung als Menschrechtsverletzung. Sie nannten die Veranstaltung "Krüppeltribunal". Damit wollten sie deutlich machen, dass zwar der Begriff "Krüppel" offiziell nicht mehr verwendet wurde, Menschen mit Behinderungen aber nach wie vor entmündigt, ausgegrenzt, mit Mitleid und Abscheu betrachtet wurden.

Sie setzen ihre Aktionen in den folgenden Jahren fort. Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung konnten sie 1994 durch ihr Engagement eine Grundgesetzänderung erreichen. Das Verbot der Benachteiligung aufgrund von Behinderung wurde in Artikel 3, Absatz 3, in das Grundgesetz aufgenommen.