Planspiel: Rollenkarte Regierungsvertreter und Regierungsvertreterinnen der Europäischen Union

Phase 1

Julia Bertmann, 28:
"Ich komme gut klar, aber die Leute…
Mit meiner Behinderung komme ich gut klar, aber es gibt Leute, die nicht behindert sind, die sagen: Diese junge Frau tut mir leid, sie sieht so komisch aus. Was hat sie denn? Ist sie krank? Das sagen ihre Augen. Sie trauen sich nicht, das laut zu sagen, weil sie denken, sie ist doof und mit der spricht man nicht.
Eine Behinderung ist keine Krankheit. Wir Behinderte sind so geboren. Wir können nichts dazu. (…) Ich möchte so behandelt werden wie nichtbehinderte Menschen. Ich mag mich so wie ich bin. I am what I am. Ich lebe genau so wie nichtbehinderte Menschen." (1)

Allgemeine Informationen über euch

Der Kontinent Europa umfasst mehr als 40 Länder, in der Europäischen Union sind derzeit 27 Staaten Mitglied. Im 20. Jahrhundert gab es zwei Weltkriege, die unter anderem Europa, aber auch Asien, große Zerstörung gebracht haben. Um weitere Kriege zwischen benachbarten Staaten zu vermeiden und mehr wirtschaftliche, soziale und politische Stabilität in den Ländern und zwischen ihnen zu erreichen, entwickelte sich über Jahrzehnte die Europäische Union (EU). Das Besondere an der EU ist, dass die Mitgliedsländer unabhängige Staaten bleiben, jedoch einen Teil ihrer Befugnisse an die EU abgeben. Entscheidungen zu speziellen Fragen, die für alle Mitgliedsstaaten von Bedeutung sind, werden gemeinsam getroffen. Dazu sind viele Treffen und Diskussionen nötig. So auch bei den Verhandlungen zur Behindertenrechtskonvention. Ihr seid Vertreterinnen und Vertreter verschiedener europäischer Länder und habt je nach Land eine bestimmte Meinung, müsst euch aber im Namen der Europäischen Union auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen. Diesen müsst ihr nach außen geschlossen vertreten. Ihr kommt beispielsweise aus Deutschland, Italien, Großbritannien, Finnland, Portugal, Frankreich und den Niederlanden. (2)

Eure Schwerpunkte und Forderungen bei den Verhandlungen: Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung

Menschen mit Behinderungen sind eurem Verständnis nach gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger, sie haben die gleichen Rechte wie alle anderen. Sie haben ein Recht auf Würde, auf Gleichbehandlung, unabhängige Lebensführung und uneingeschränkte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Euer Hauptanliegen ist es, Menschen mit Behinderungen zu ihren Rechten zu verhelfen. Ihr möchtet erreichen, dass Menschen mit Behinderungen selbst über ihr Leben bestimmen. Sie sollen alles Nötige bekommen, um ihren Alltag selbst meistern zu können – genauso wie Menschen ohne Behinderungen. (3)

Euch ist es ganz wichtig, die Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen sicherzustellen. Chancengleichheit bedeutet für euch, dass alle Menschen gleiche Rahmenbedingungen haben; Das bedeutet, über alles zum Leben notwendige verfügen zu können, zum Beispiel Zugang zum Gesundheitssystem, zu Arbeit und Bildung zu haben. Wenn das nicht gegeben ist, spricht man von Diskriminierung. Menschen werden zum Beispiel aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihres Alters, ihrer Religion oder einer Behinderung diskriminiert.

Eure Forderungen an den Vertrag insgesamt: Die Umsetzung von Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen

Fehlende Chancengleichheit ist eine Verletzung der Menschenrechte, das steht für euch fest. Denn die Menschenrechte fordern Gleichheit und Nichtdiskriminierung. Menschen mit Behinderungen sollen ein sicheres, freies und unabhängiges Leben in der Gesellschaft führen können. Ihr seid euch zudem sicher, dass fehlende Chancengleichheit als ungerecht empfunden wird, zu Protesten führen kann und damit den sozialen Frieden gefährdet.

Um Chancengleichheit zu erreichen, muss Folgendes passieren:

  • Öffentlichkeitsarbeit, die über die Rechte von Menschen mit Behinderungen informiert. Zum Beispiel mehr Menschen mit Behinderungen in der Werbung, im Radio, in Filmen; dabei sollten ihre Stärken dargestellt werden.
  • Menschen mit Behinderungen sollen alle Hilfsmittel bekommen, die sie für ein Leben in der Gemeinschaft benötigen. Dazu gehören technische Hilfsmittel, zum Beispiel spezielle Sehlupen, Hörgeräte, Rollstühle, Autos, Fahrräder, aber auch persönliche Assistenzen, die mit ins Kino oder mit zum Einkaufen gehen oder bei der Pflege unterstützen.


Tipp:

Schreibt diese Positionen in Stichpunkten auf ein Flipchart oder an die Tafel. Eure Sprecherin oder euer Sprecher wird sie in der Verhandlung zwei Minuten lang vorstellen. Sprecht euch in eurer Gruppe gut ab, denn ihr sollt ein einheitliches Bild nach außen abgeben. Macht euch durch euer Gruppenemblem erkennbar. In der Gruppe dürft ihr so viel diskutieren, wie ihr wollt. Ihr könnt dabei eure Rolle auch ausschmücken, mit eigenen Argumenten und Ideen bereichern oder etwas dazu erfinden. Beachtet aber bitte, dass ihr euch nicht zu weit von den Anregungen auf der Rollenkarte entfernt.

Beachtet bitte, dass das Recht auf Bildung in dieser Phase noch nicht im Mittelpunkt steht!

Phase 2

Haydee Beckles aus Panama:
"Ich habe meine Schulausbildung in einer Regelschule begonnen, aber ich war sehr langsam und schlief auf meinem Stuhl ein, daher hat der Lehrer gesagt, dass ich auf eine spezielle Schule gehen müsse. Sie haben mich auf eine Sonderschule geschickt. In dieser Schule haben sie kein Englisch gesprochen, nur Spanisch, und so musste ich Spanisch lernen. Dies war nicht meine Muttersprache, weil wir zu Hause Englisch gesprochen haben. Ich habe mich also angepasst und lebte von da an in zwei Welten. Zum einen im Sonderschulsystem, dort haben sie nur wenig von mir erwartet, also tat ich das Wenige. Zum anderen war ich zu Hause, meine Mutter und mein Vater haben mich in alles inkludiert, also einbezogen. Sie haben mich gelehrt, die Dinge auf meine eigene Weise zu tun. Ich habe gelernt meine Hausaufgaben langsam zu machen, mit all meinen Geschwistern. Ich habe gelernt, Diktate zu schreiben, Rechtschreibung zu üben und im Wörterbuch nachzuschlagen, mein Zimmer aufzuräumen und den Abwasch zu machen ohne etwas kaputt zu machen. Auf diese Weise habe ich gelernt, selbständig in der Gemeinschaft, gemeinsam mit allen anderen, zu leben. Mit meinem heutigen Verständnis sehe ich, dass meine Entwicklung besser verlaufen wäre, wenn ich in einer Regelschule unterrichtet worden wäre. Ich bin aus Panama hergekommen, um Sie alle zu bitten, anderen Kindern mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, in eine Schule für Alle zu gehen, in ihrer Gemeinde." (4) 

Eure Forderungen zum Recht auf Bildung: Bildung muss menschlicher Vielfalt gerecht werden

Ihr seid euch in der Europäischen Union nicht ganz einig, wie das Recht auf Bildung gestaltet werden soll. Ihr habt ganz unterschiedliche Auffassungen darüber, müsst nach außen aber als Einheit auftreten. Das heißt, ihr führt in eurer Gruppe heftige Diskussionen, vor allem bei der Frage "Eine Schule für Alle oder getrennte Schulen?". Getrennte Schulen beizubehalten würde bedeuten, dass es eine Schule für Kinder ohne Behinderungen und spezielle Schulen für Kinder mit Behinderungen gibt. Ihr seid gespalten: England und die Niederlande sind eher konservativ und wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, also getrennte Schulen. Deutschland ist neutral und hat keine endgültige Meinung, und Finnland ist für die Inklusion, also eine Schule für Alle. Nach langen Diskussionen könnt ihr euch jedoch auf die folgenden Punkte zum Recht auf Bildung einigen:

Gemeinsam setzt ihr euch für eine Bildung ein, die der menschlichen Vielfalt und der Würde des Menschen gerecht wird. Das bedeutet, dass diese Bildung die Chancengleichheit im Blick hat, damit alle gleichberechtigt an der Bildung, aber auch am sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen können. Chancengleichheit bedeutet sowohl, dass alle Menschen an der Bildung teilhaben können, als auch, dass die Vermittler und Vermittlerinnen der Bildung alle Kinder in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit annehmen, egal, ob jemand eine Behinderung hat, groß oder klein ist, eine andere Hautfarbe hat oder eine andere Religion. Auch wenn jemand eine andere Sprache spricht, muss auf ihn oder sie in der Schule geachtet werden. Auch diese Kinder müssen Unterstützung bekommen, genauso wie ein Kind mit Behinderungen. Hierfür fordert ihr individuelle Bildungspläne und genügend gut ausgebildete Fachkräfte. Denn anders kann es nicht gelingen, dass Bildung allen gerecht wird.
 
Bleibt in den Verhandlungen offen und gespannt auf die Beiträge der anderen, denn eure Position bleibt durch die verschiedenen Haltungen eurer Mitglieder etwas vage und unklar.

Tipp:
Auch in Phase 2 dürft ihr wieder kreativ die Argumente und Forderungen ausschmücken und etwas dazu erfinden. Wichtig ist nur, dass ihr euch nicht zu weit von den Inhalten auf der Rollenkarte entfernt. Schreibt eure Positionen in Stichpunkten auf ein Flipchart oder an die Tafel. Eure Sprecherin oder euer Sprecher wird diese wieder der Versammlung vorstellen. Denkt daran, dass in Phase 2 auch jemand anders für eure Gruppe sprechen kann als in Phase 1. Für die Vorstellung in der Versammlung habt ihr wieder zwei Minuten Zeit. Dann folgt eine Diskussion. Bereitet euch gut vor und bedenkt, dass ihr euch auch von anderen überzeugen lassen dürft und natürlich versuchen sollt, andere zu überzeugen. Die Ergebnisse der Diskussion sind offen. Wichtig ist nur, dass es am Ende eine Einigung gibt. Also seid diplomatisch.

Wenn andere Verhandlungsteilnehmende euch ablenken oder andere Menschen mit Behinderungen in den Vordergrund stellen als ihr, könnt ihr dies verstehen und auch annehmen. Euch ist aber trotzdem wichtig, eure inhaltlichen Schwerpunkte zu betonen und darüber zu verhandeln.

Übersicht über die anderen Gruppen

Damit ihr einschätzen könnt, was in den Verhandlungen auf euch zukommt, hier eine kurze Übersicht darüber, was die anderen Gruppen fordern. Überlegt in eurer Gruppe, wie ihr zu diesen Forderungen steht, ob ihr sie gut findet oder ablehnt. Bereitet euch damit auf die kommende Verhandlung vor.

Die Afrikanische Union fordert die besondere Förderung der Rechte von Mädchen und Frauen mit Behinderungen, auch in der Bildung und für eine Schule für Alle.

Australien möchte, dass jedes Kind in eine Schule für Alle geht, die wohnortnah ist und in die auch die Nachbarskinder gehen.

Brasilien findet, dass Bildung gemeinsam in einer Schule stattfinden soll, weil sich dadurch die Einstellung von Menschen ohne Behinderung gegenüber Menschen mit Behinderungen positiv verändern kann.

China möchte die Förderung der Armutsbekämpfung ausweiten und verschiedene Schulformen ermöglichen: Es muss der chinesischen Delegation zufolge für jedes Kind eine Schule geben, aber nicht unbedingt eine Schule für Alle.

Die Europäische Union möchte Chancengleichheit durch Bildung ermöglichen. Ihre Mitglieder sind sich nicht ganz einig, was genau das für das Schulsystem heißt.

Inclusion International fordert eine Schule für Alle, denn nur eine Schule für Alle kann die Kreativität und Begabungen von allen Kindern fördern.

Das Internationale Bündnis von Menschen mit Behinderungen fordert eine Schule für Alle und die Einführung von Brailleschrift, Leichter Sprache und Gebärdensprache als Fremdsprachen.

Japan legt besonders viel Wert auf eine kostenlose Bildung für jedes Kind. Das Schulsystem mit unterschiedlichen Schulformen sollte beibehalten werden.

Kanada ist der Meinung, dass Bildung unbedingt der Würde der Kinder gerecht werden muss und dass dies nur in einer Schule für Alle geschehen kann.

Norwegen legt großen Wert auf Lebenslanges Lernen, also Bildung für alt und jung. Norwegen hat keine klaren Vorstellungen darüber, ob es in Zukunft eine Schule für Alle oder verschiedene Schulformen geben sollte.

Die Weltorganisation gehörloser Menschen, die Weltorganisation für gehörloseblinde Menschen und die Weltorganisation für blinde Menschen sind sich einig, dass es verschiedene Schulformen geben muss. Aus ihrer Sicht ist die Forderung nach einer Schule für Alle nicht angemessen für Menschen, die blind, gehörlos oder gehörlosblind sind.


Quellen:
1: Julia Fischer, Anne Ott, Fabian Schwarz (Hg.) 2010: Mehr vom Leben. Frauen und Männer mit Behinderung erzählen. Balance Buch, Bonn, S. 266.
2: http://www.infopoint-europa.de/halloeuropa/Erweiterungen.htm
3: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=429&langId=de
4: S. 138 Originalstatement aus den Dokumenten von Inclusion International, übersetzt vom Deutschen Institut für Menschenrechte